Holz ist nachhaltig, wenn die dahinterstehende Wertschöpfungskette es ist. Ein Plädoyer von Marc Angélil, dem Jurypräsidenten des diesjährigen Schweizer Holzbaupreises aus dem Themenheft von Hochparterre.
Gewiss, Holz ist ein nachhaltiges Material. Es ist erneuerbar und wiederverwertbar. Und es hat, wenn richtig verwendet, einen relativ kleinen ökologischen Fussabdruck. Bäume absorbieren CO2 und können so unsere Auswirkungen auf die Umwelt reduzieren. Zudem kann Holz als Material für Häuser oder Möbel einen poetischen Ausdruck entfalten. So ist man sich einig. Doch statt Altbekanntes zu wiederholen, scheint es mir passender, das Themenheft zum diesjährigen Prix Lignum mit einer generationenübergreifenden Geschichte über Holz zu eröffnen. Da wir nicht wissen, ob die Geschichte erfunden ist, trifft die Bezeichnung Parabel wohl besser zu. Sie trägt die Grundidee des Brundtland-Berichts von 1987 in sich: Dieser definiert Nachhaltigkeit als eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht, ohne jene der künftigen Generationen zu gefährden. Die Parabel wurde vielfach erzählt. Ich entdeckte sie vor vielen Jahren in einem Essay des englischen Anthropologen Gregory Bateson mit dem Titel ‹The Oak Beams of New College, Oxford›, erschienen in einer frühen Ausgabe des amerikanischen Magazins ‹Whole Earth Catalog›. Kürzlich hat Vittorio Magnago Lampugnani sie in seinem Pamphlet ‹Gegen Wegwerfarchitektur› wieder aufgenommen.
Holz hat, wenn richtig verwendet, einen relativ kleinen ökologischen Fussabdruck
Die Parabel handelt also von den Eichenbalken im Speisesaal des New College in Oxford. Der Saal wurde 1379 als Teil der Universität errichtet und soll – gewissen Stimmen zufolge – J. K. Rowling zur Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei in ihren Harry-Potter-Romanen inspiriert haben. Die Balken sind 45 Fuss lang, ihr Querschnitt misst 2 Fuss im Quadrat. Sie ruhen auf schwerem Mauerwerk – heute würden wir sagen, sie sind integrale Bestandteile einer Hybridkonstruktion.
Vor rund 150 Jahren, so die Geschichte, entdeckte ein fleissiger Insektenforscher, dass die Tragfähigkeit des Gebälks durch einen Käferbefall beeinträchtigt worden war. Der Hochschulrat nahm die Nachricht besorgt auf, in der Annahme, dass Balken dieser Grösse schwierig zu beschaffen seien und der Speisesaal im schlimmsten Fall niedergerissen werden müsse. Da erinnerte ein Junior Fellow daran, dass die Universität Waldflächen mit uralten Eichen besitzt, die als Ersatz für die Balken dienen könnten. Der Förster der Universität, der den Campus nie zuvor betreten hatte, wurde eilig vor den Hochschulrat berufen, um zu beraten, was zu tun sei. Seine Reaktion fiel kurz aus, sprach jedoch Bände: «Nun, meine Herren, wir haben uns gefragt, wann Sie sich erkundigen würden.» Er erklärte, dass bei der Gründung des College ein Eichenhain gepflanzt worden sei, in der weisen Voraussicht, dass die Balken des Speisesaals irgendwann ersetzt werden müssten. Diese Bestimmung gaben die Förster während fast 500 Jahren von Generation zu Generation weiter, wobei jeder seinen Nachfolger anwies: «Fälle die Eichen nicht, sie sind für den Speisesaal im College!» Der Wald bestand also bereits als Ressource. Die Bäume konnten gefällt und zugeschnitten werden, um den Saal zu renovieren. Entscheidend für die Geschichte: Die Wälder wurden nicht nur erhalten, sondern es wurden sogar noch mehr Bäume gepflanzt, um die zukünftige Nachfrage nach Holz zu decken. So die Geschichte, sei sie wahr oder nicht.
Es geht um die kluge Verwaltung von erneuerbaren Ressourcen im Bausektor
Was können wir aus dieser Parabel lernen? Welche Relevanz hat sie für das heutige Bauen mit Holz und für die Ziele des Prix Lignum? Erstens: Die Geschichte trifft den Kern des nachhaltigen Denkens. Eine Generation stellt die Ressourcen für kommende Generationen sicher. Zweitens: Es geht um die kluge Verwaltung von erneuerbaren Ressourcen im Bausektor. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Wertschöpfungskette von Holz – vom Wald und dessen Pflege über die Verarbeitung bis zum Bau. Und drittens: Die Geschichte ist sinnbildlich für die Schweizer Holzindustrie, sowohl für ihre Vorreiterrolle als auch für ihre Herausforderungen.
So war zum Beispiel das Eidgenössische Waldgesetz von 1876 seiner Zeit voraus und gilt bis heute als internationales Modell. Es ist der Inbegriff des Prinzips Nachhaltigkeit, indem es anerkennt, dass Wälder als nationales Kapital gegen Abholzung und Raubbau geschützt werden müssen. Dabei sichert das Waldgesetz jeder Generation das Recht zu, den Wald als lebenswichtige Ressource zu nutzen, und schreibt damit einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage vor. So weit, so gut.
Der diesjährige Prix Lignum belegt, dass immer mehr mit Holz gebaut wird
Allerdings ist die aktuelle Situation in den Schweizer Wäldern eigenartig: Es besteht keine Über-, sondern eine Unternutzung. Seitens der Nachfrage stellen sich Baukunst und Ingenieurwesen der Herausforderung und verwenden vermehrt Holz. Bei jungen Entwerfern ist es das Material ihrer Wahl schlechthin. Der diesjährige Prix Lignum belegt, dass immer mehr mit Holz gebaut wird: 583 Projekte wurden eingereicht – das entspricht einem Zuwachs von zehn Prozent seit 2021, der mit einer erhöhten Qualität einhergeht. Die eingereichten Projekte zeigen: Schweizer Baukultur ist auch hier wegweisend. Das als gute Nachricht.
Beim Angebot gerieten die nationalen Produktionskapazitäten indessen in Rückstand. Laut Statistik wird etwa ein Drittel des im Bausektor verwendeten Holzes lokal angebaut, der Rest wird importiert. Die Schweiz ist auf gut etablierte Handelsnetze angewiesen, um den hiesigen Bedarf zu decken. Die Holzindustrie hat das Problem erkannt und möchte die Kapazitäten erhöhen. So entstehen landesweit neue Produktionsstätten, zum Beispiel das Faserdämmplattenwerk von Schilliger Holz in Küssnacht oder die gross angelegte Initiative ‹Resurses› der Uffer Gruppe in Savognin, die die gesamte Wertschöpfungskette im Auge hat. Die Dinge scheinen sich in die richtige Richtung zu bewegen.
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Zweckmässigkeit des Einsatzes von Holz sollte unsere Handlungen leiten
Dennoch ist Vorsicht angebracht. Die Parabel reicht weit über Oxford oder die Schweiz hinaus. Denn Wälder halten sich offensichtlich nicht an Staatsgrenzen. Sie sind Teil der Umwelt als Ganzes und spielen eine wichtige Rolle in der Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen. Hier lohnt ein Blick auf die Ergebnisse einer WWF-Studie mit dem Titel ‹Alles aus Holz: Rohstoff der Zukunft oder kommende Krise?› Bei ihrem Erscheinen 2022 sorgte sie für Kontroversen. Insbesondere die Holzindustrie nahm die Vorhersage einer weiteren nahenden Krise skeptisch auf. Die Kernaussage der Studie: Die weltweite Nachfrage nach Holz drohe die begrenzten Ressourcen der Waldbestände zu übersteigen, wie es schon der Bericht ‹Die Grenzen des Wachstums› 1972 vorhergesagt hatte. So muss die Frage «Alles aus Holz?» mit einem klaren «Nein» beantwortet werden. Stattdessen sollte die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Zweckmässigkeit des Einsatzes von Holz unsere Handlungen leiten.
Gewiss muss nicht alles aus Holz gemacht sein. Doch Architekten und Ingenieurinnen sind gut beraten, wenn sie bei ihren Bauten auf die verwendete Holzmenge achten. Kann mehr mit weniger erreicht werden? Konstruktionsdetails scheinen stets komplizierter zu werden. Unmengen an Schichten werden übereinander gelegt. Und manchmal verkommen Baustellen zu Schauplätzen regelrechter Materialschlachten. Damit müssen wir aufhören! Wohlüberlegte und auf das Nötigste bemessene Strukturen aus Holz haben das Potenzial, dem entgegenzuwirken. Daher sollten die aktuellen Bewertungskriterien des Prix Lignum siehe Seite 10 bei der nächsten Ausgabe 2027 um eine zusätzliche Frage ergänzt werden: «Beruht die Arbeit auf einer strengen Ökonomie der Mittel?» Somit schliesse ich mit dem beinahe paradox anmutenden Appell, dass wir mehr mit weniger Holz bauen sollten, dies unter der Voraussetzung, wieder mehr Wälder zu pflanzen. So viel schulden wir den zukünftigen Generationen.
Aus dem Englischen übersetzt von Lena Maria Dreher.
Das Themenheft Prix Lignum 2024 kann man hier bestellen.