Postfossile Pflicht

Eine Hauptrolle beim klimagerechten Bauen spielen die Architekten. Die Treibhausgase fallen bei einem vorbildlichen Neubau zu mehr als siebzig Prozent in der Erstellung an. Das ist die Domäne der Architektur.

Fotos: Andrin Winteler

Eine Hauptrolle beim klimagerechten Bauen spielen die Architekten. Die Treibhausgase fallen bei einem vorbildlichen Neubau zu mehr als siebzig Prozent in der Erstellung an. Das ist die Domäne der Architektur.

«How much does your building weigh?»
Richard Buckminster Fuller


Wer Architektur mit Arithmetik begreifen will, wird scheitern: Zu viele Variablen, zu viele Unbekannte, zu viel Geschichte. Und doch kommt die Disziplin nicht um harte Werte herum, will sie ihren Beitrag zum Klimaschutz ernst nehmen. Gebäude zu erstellen und zu betreiben, verursacht vierzig Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses, den der Mensch verantwortet. Bis 2050 muss die Baubranche ihre Abhängigkeit davon loswerden. Dieses rigorose Unterfangen fordert den Willen der Bauherren, das Können der Planerinnen und die Lösungen der Hersteller. Denn klimaneutral bauen ist heute nicht möglich: Weder Beton noch Glas können ohne Emissionen erzeugt werden, und ein Fundament und ein Fenster braucht jedes Haus.

Eine Hauptrolle bei dieser CO2-Entwöhnung spielen die Architekten, weil sie bei den oftmals widersprüchlichen Entscheidungen den Überblick behalten. Klimagerecht bauen, heisst: Es geht nicht um Energie, obwohl diese oft im Vordergrund steht, sondern um Treibhausgase. Und diese fallen laut dem Effizienzpfad Energie des SIA bei einem vorbildlichen Neubau zu mehr als siebzig Prozent und bei einem Umbau zu fünfzig Prozent in der Erstellung an. Das ist die Domäne der Architektur.

Zum nachhaltigen Bauen gehören viele Themen vom Vogel- bis zum Mieterschutz, doch der Klimawandel hat Priorität. Er ist dringlicher und weitreichender als die anderen Krisen. Zudem gibt es für viele ökologische und gesellschaftliche Aspekte Gesetze, Normen und Standards. Für das CO2-Problem aber existieren bis heute keine griffigen Mechanismen, weder politisch noch ökonomisch. Der Betrieb eines Gebäudes ist zwar gesetzlich geregelt, wie viel graue Treibhausgase seine Erstellung verpufft, überlässt der Staat jedoch dem Markt.

Die Ökobilanzierung ist keine exakte Wissenschaft. Entscheidend sind aber nicht die Stellen hinter dem Komma, sondern die grossen Hebel. Dieser Themenfokus zeigt in sechs Kapiteln, wo diese Hebel im Entwurf liegen und wie Architektinnen sie bedienen. Setzen sie auf allen Ebenen der Konstruktion an, können sie die Treibhausgase um rund ein Drittel reduzieren. Bauen sie weniger als üblich, sparen sie noch mehr. Weil das Klimathema komplex genug ist, fokussieren wir auf den Aspekt der Treibhausgase. Die Architektin muss jeden der Klimagründe abwägen, denn manche Massnahmen ziehen anderswo Nachteile mit sich.

Die gute Nachricht: Ausschlusskriterien gibt es wenige, der klimagerechten Kreativität sind keine engen Grenzen gesetzt. Allerdings gibt es klare Prioritäten, und darum bewerten wir den Effekt jeder Stellschraube mit null bis fünf Punkten. Am weitesten kommt, wer an vielen Gewinden ansetzt: Zwei Drittel der Massnahmen sind mit drei oder vier Punkten gewichtet. CO2 reduzieren ist wie abnehmen, nur dass man Kohlenstoff statt Kalorien zählt: Man kann weniger essen oder sich mehr bewegen, am besten tut man beides. Die Antworten zeigen auch: Wer emissionsfrei entwerfen will, muss seine Gewohnheiten hinterfragen. Die postfossile Architektur sieht anders aus – vom Fundament bis zum Dach. Architekten sollten diese Chance für einen kräftigen, zeitgemässen Ausdruck mit Lust anpacken. Zuletzt ist ein sachlicher Blick nötig. Es geht nicht darum, Materialien gegeneinander auszuspielen oder eine Konstruktion zur einzig möglichen Lösung hochzustilisieren. Am Ende zählen die nackten Zahlen zu den Treibhausgasen, egal, wie man Letztere loswurde.

Aufnahme aus dem Atelier von Andrin Winteler.

Anschaulicher Ausstoss
Der Fotograf Andrin Winteler hat das Klimathema für diesen Themenfokus mit rauchenden, qualmenden und dampfenden Baumaterialien künstlerisch in Szene gesetzt. So macht er die flüchtigen Emissionen sicht- und greifbar.

Dank
Folgende Personen haben die Recherche unterstützt, stehen aber nicht zwingend hinter sämtlichen Aussagen des Artikels: Sebastian El Khouli, Architekt und Partner im Büro BGP; Katrin Pfäffli, Architektin und Beraterin für Nachhaltigkeit aus der Bürogemeinschaft Preisig Pfäffli; Guillaume Habert, ETH-Professor für nachhaltiges Bauen; Rolf Frischknecht, Inhaber von Treeze und Geschäftsführer Plattform Ökobilanzdaten im Baubereich; Gianrico Settembrini, Leiter der Forschungsgruppe ‹Nachhaltiges Bauen und Erneuern› der Hochschule Luzern; Heinrich Gugerli, technischer Leiter ‹2000-Watt-Areale›; Annette Aumann, Leiterin Fachstelle nachhaltiges Bauen Stadt Zürich.

Quellen
Merkblatt SIA 2032, ‹Graue Energie von Gebäuden›; SIA 2040, ‹Effizienzpfad Energie›; SIA-Dokumentation D-0258; Eco-Bau; ‹Graue Energie von Neubauten: Ratgeber für Baufachleute›, Energie Schweiz; ‹Graue Energie von Umbauten: Ratgeber für Baufachleute›, Energie Schweiz; Faktor-Themenheft ‹Graue Energie›; ‹Nachhaltig konstruieren›, Detail Green Books; Broschüre ‹Klima als Entwurfsfaktor›, Hochschule Luzern; ‹Gesund und ökologisch bauen mit Minergie-Eco›, Gugerli, Lenel, Sintzel; KBOB-Empfehlung ‹Ökobilanzdaten im Baubereich›; Bafu-Ratgeber ‹Hitze in Städten›; Empa-Studie ‹Der Weg zum energieeffizienten Gebäudepark›; Schlussbericht ‹Optimale Dämmstärken bei Wohngebäuden bezüglich Minimierung der Umweltbelastung›, Bundesamt für Energie; ‹Environmental impact of buildings: what matters?›, ETH Zürich, Paul-Scherrer-Institut, Chalmers University of Technology; ‹Tracking construction material over space and time›, ETH Zürich; ‹A sustainable future for the European cement and concrete industry›, ETH Zürich, EPF Lausanne; ‹CO2-Effekte der Schweizer Wald- und Holzwirtschaft›, Bundesamt für Umwelt.

33 Klimatipps für Architekten:
Editorial – postfossile Pflicht
Auftrag – hinterfrage den Bauherrn
Gebäude – die Effizienz der Kiste
Konstruktion – leicht und beständig
Material – wenig verbauen, wieder verwerten
Energie – die Kraft der Natur
Umsetzung – Material kostet wenig, Arbeit viel

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