Köbi Gantenbein erzählt in «Bilderschatz und Sterngewölbe» eine muntere Kirchen-, Kunst- und Sozialgeschichte entlang von 30 Kirchen im Unterengadin. Hier die Leseprobe zur Kirche Sankt Flurin in Martina.
2022 hat Köbi Gantenbein als Verleger und Mehrheitsaktionär den Stab an Hochparterres Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übergeben. Zum Abschied haben sie ihm ein Buch geschenkt. Nun feierte «Bilderschatz und Sterngewölbe. Geschichten zu 30 Kirchen und einem Schloss im Unterengadin» Vernissage in Lavin. Im Buch erzählt Gantenbein die Geschichten von Protzkirchen von Kriegsunternehmern (Zernez, evangelisch), der schönsten Malerei in den Alpen (Lavin), dem erste Streik im Kanton (Ardez) oder dem steingewordenen Kampf des Bischofs um verlorene Seelen (Zernez, katholisch). Gantenbein endet oder beginnt an der Grenze zu Österreich in Martina mit der Geschichte zu einer missratenen Spekulation.
Hier das Kapitel zur katholischen Kirche Sankt Flurin in Martina in voller Länge.
Willem Jan Holsboer war im ausgehenden 19. Jahrhundert der Eisenbahnkönig im Kanton Graubünden. Er plante und baute die Bahn von Landquart nach Davos innert weniger Jahre und legte so 1890 den Grundstein der RhB. Und im gleichen Jahr reichte er die Konzession für eine Bahn von Davos über den Scalettapass ins Engadin ein, die von dort über Scuol nach Martina und weiter nach Landeck führen sollte. Für die Kurgäste aus dem k. u. k. Österreich-Ungarn und aus den Weiten Osteuropas und Russlands würde so die Reise nach Davos, Vulpera und St. Moritz kommoder werden. Auch auf Martina wartete dank der Eisenbahnpläne eine blühende Zukunft. Seit 1848 hatte die Eidgenossenschaft in diesem Bauerndörflein ihre Zollstation aufgebaut. Man verband mit dem Zoll die Erinnerung an eine Sust mit Warenumschlag und vielen übernachtenden Reisenden; man erwartete Lagerhäuser und neue Hotels; Stapelarbeiter, Zöllner, Transporteure, Köchinnen, Kellner, Waschfrauen und Zimmermädchen würden das Dörflein vergrössern. All das, wenn der Zug käme.
Auch der Kapuzinerpater Theoderich von Tarasp spekulierte auf Gewinn. Er wollte gerüstet sein für das herbeiströmende Proletariat des Fremdenverkehrs. Er hatte gelernt, dass der Tourismus im Engadin vorab von Menschen aus Italien, Österreich und der Surselva am Laufen gehalten wurde – meist Katholikinnen und Katholiken, Arbeitsemigranten im ihnen glaubensfremden Engadin. Er förderte für sie Kirchenbauten in Scuol und Susch. Und nun bauten er und die Seinen mit Spenden aus der katholischen Schweiz 1902 Sankt Flurin, eine der seltsamsten Kirchen des Kantons Graubündens. Der helle Kasten mit dem fast flachen Satteldach obendrauf erinnert mit dem überhohen Parterre und den grossen Fenstern an eine Textilfabrik, die es an den untersten Ort des Unterengadins verschlagen hat. Und wie manch ein Fabrikant sein nüchternes Etablissement verzierte, so liess auch Pater Theoderich an seiner Kirche die Ecken und die Fassade mit grauen Lisenen festigen und markieren. Über dem nüchternen, 200 Quadratmeter grossen Betsaal im Erdgeschoss gibt es auf zwei Geschossen eine riesige Wohnung mit einer Hauskapelle und zahlreichen Stuben und Zimmern für die Gemeinde, für eine Schule und für den Pfarrer. Und wie bei einer Fabrik sitzt auf dem Dach der Kirche ein Turm mit Glocke, eingekleidet mit typischem Industriematerial – grauen Eternitplatten. Alles aus einem Guss, nur das neogotische Dach über dem Portal passt nicht recht. Doch Pater Theoderichs Spekulation ging in die Hosen, denn der Erste Weltkrieg hatte die Pläne des Eisenbahn- und Kurortkönigs Holsboer aus Davos vernichtet. Scuol wurde zur Endstation der RhB.
Erwin Poeschel beschreibt in seiner Kunst- und Architekturgeschichte von Graubünden auf über 2000 Seiten in sieben Bänden nicht nur fast jede Kirche und jedes Bürgerhaus, sondern auch fast jeden Kelch und jedes Fresko zwischen Tschamutt und Strada – das seltsame Gotteshaus von Martina erhält kein Wort. Straft der ‹Poeschel› so die verkrachte Spekulation mit Missachtung? Also rettet dieses Buch ihre Ehre und spekuliert gar über die Zukunft dieser christlichen Brache – ein spirituelles Zentrum für Ermattete? Eine Heimstätte für Gebrochene? Oder einfach zwecklos schön ein Denkmal einer Zeit, als der Rand hoffte, bald Mitte zu werden?