Der Siedlungsraum als Hort der Biodiversität

Die natürliche Vielfalt im Siedlungsraum ist sehr hoch, doch auch hier nimmt sie ab. Beispiele aus Stadt, Agglomeration und Dorf zeigen, wie Biodiversität gestaltet werden kann.

In Zusammenarbeit mit BSLA

Die natürliche Vielfalt im Siedlungsraum ist sehr hoch, doch auch hier nimmt sie ab. Beispiele aus Stadt, Agglomeration und Dorf zeigen, wie Biodiversität gestaltet werden kann.

Die Biodiversität im Siedlungsraum ist hoch, sehr hoch, und zwar schon seit Jahrzehnten. Sie ist höher als im Landwirtschaftsgebiet und höher als in jedem Naturschutzreservat. Das liegt nicht daran, dass der Mensch, der dieses Habitat für sich geschaffen hat, ein besonderes Augenmerk auf die Biodiversität gelegt hätte. Nein, Biodiversität im städtischen Umfeld ist Beifang.

Der Lebensraum Siedlungsgebiet ist für menschliche Bedürfnisse gestaltet. Ökonomie, Demografie, Wohlfahrt und Technologie sind die wichtigsten Treiber. Daraus ergeben sich unterschiedlichste Räume und Flächen: intensiv genutzte und vergessene, heisse und kühle, trockene und feuchte, mineralische und humusreiche, alte und neue, prätentiöse und banale, windige und geschützte, vernetzte und isolierte. Die Vielfalt der Räume ist der Grund für die Vielfalt der Habitate für Flora und Fauna, und daraus wiederum ergibt sich die hohe Biodiversität.

Ein neues Zuhause für eingewanderte Arten
Bauen ist also grundsätzlich biodiversitätsfördernd. Kommt dazu, dass passionierte Botaniker, Gärtnerinnen, Pflanzenzüchter und Landschaftsarchitektinnen seit Jahrhunderten neue Sorten und Varietäten in den Siedlungsraum bringen, sie kultivieren und einsetzen und so nicht nur Gärten und Pärke verschönern, Farben und Formen komponieren, sondern auch den regionalen Genpool vergrössern. Habitate im urbanen Raum sind jung, so jung, dass sich – mit Ausnahme der kultivierten Zierpflanzen – keine eigene spezifische Flora und Fauna entwickeln konnte. Alle Arten sind aus anderen Lebensräumen in Wald und Flur eingewandert und haben im Siedlungsgebiet ein neues Zuhause gefunden. Der Siedlungsraum ist also grundsätzlich ein Ersatz- oder Sekundärlebensraum. Er bietet auch Arten Asyl, die aus meliorierten Intensivkulturlandschaften oder verbauten Gewässerräumen verdrängt werden. Gärten, Parkanlagen, Bäume, Brachflächen, Böschungen entlang von Strassen und Schienen, Weiher und Tümpel, begrünte Dächer und Fassaden bilden ein Mosaik von unterschiedlichsten Lebensräumen.

Doch die Gleichung ‹Bautätigkeit fördern = Biodiversität fördern› geht nicht ganz auf. Die Ausdehnung des Siedlungsraums und der Bau immer neuer Infrastrukturen zerschneiden oder zerstören wertvolle Lebensräume in der offenen Landschaft. Zudem verursacht Teil 1 des revidierten Raumplanungsgesetzes, das 2014 in Kraft getreten ist, Kollateralschäden: Die Tatsache, dass Baulücken gefüllt, Altes abgerissen und durch bis an den Parzellenrand Unterbautes ersetzt wird oder Industriebrachen bebaut werden, hat für die Biodiversität verhängnisvolle Konsequenzen.

Akut bedrohte Hotspots
Gut durchgrünte Wohnsiedlungen, Ruderalflächen, kleine Wiesen und Obstgärten, vergessene Hecken und Gehölze, alte Bäume und grosszügige Villengärten sind die Hotspots der urbanen Biodiversität. Doch sie ist akut bedroht durch die Goldgräberstimmung im städtischen Raum. Gegen Immobilienentwickler und institutionelle Anleger haben die urbanen Biodiversitäts-Hotspots ganz schlechte Karten. Bis heute hat die Stadt Zürich keine Handhabe, um bei Bauvorhaben biodiversitätsfördernde Massnahmen zu verlangen. Abhilfe soll die im April vom Kantonsrat genehmigte Revision des Planungs- und Baugesetzes betreffend eine ‹klimaangepasste Siedlungsentwicklung› schaffen. Ein neuer Paragraf fordert ausdrücklich qualitativ wertvolle Grünflächen. Massgebend dafür ist insbesondere auch der ökologische Ausgleich.

Wichtige Aspekte für die Erhaltung der grünen Substanz im Siedlungsraum – etwa die Beschränkung der Unterbauung oder die Flexibilisierung der Grenzabstandsregelung – haben es leider nicht in das Gesetz geschafft. Das ist einer der Hauptgründe für den Verlust von grossen alten Bäumen im privaten Raum. Die fehlende Regelung macht auch viele Bestrebungen der öffentlichen Hand wieder zunichte. Genf will bis 2070 einen Kronendachanteil von 30 % in der Stadt erreichen; heute beträgt dieser 23 %. Dafür sollen in den kommenden 15 Jahren 150 000 Bäume gepflanzt werden. Die Stadt Zürich hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 die Überdeckung des öffentlichen Raums mit Baumkronen von heute 17 % auf 25 % zu erhöhen. Ein gewaltiger Kraftakt angesichts der ungebremst hohen Verluste im privaten Raum, die ebenfalls kompensiert werden müssen.

Willkommenes Werkzeug
Grundlage aller kantonalen und kommunalen Bestrebungen, die Biodiversität im Siedlungsraum zu fördern, ist Artikel 18b des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz. Er verpflichtet die Kantone und Gemeinden, in intensiv genutzten Gebieten inner- und ausserhalb von Siedlungen für ökologischen Ausgleich zu sorgen. Mit dem ‹Aktionsplan Strategie Biodiversität Schweiz› hat der Bundesrat schon 2017 aufgezeigt, wie dieser Ausgleich angegangen werden soll. Ein Kernanliegen der Strategie ist der Auf- und Ausbau sowie der Unterhalt einer landesweiten ökologischen Infrastruktur. Diese stellt die Vernetzung ökologisch wertvoller Flächen sicher und bildet damit sowohl die räumliche als auch die funktionale Basis für den Erhalt und die Verbesserung der Biodiversität.

Eine sehr konkrete Massnahme sind die Musterbestimmungen zur Förderung von Biodiversität und Landschaftsqualität im Siedlungsgebiet, die das Bundesamt für Umwelt (Bafu) 2022 publiziert hat. Die Empfehlungen unterstützen Kantone und Gemeinden dabei, ihr Siedlungsgebiet naturnah und attraktiv zu gestalten und die dafür notwendigen Massnahmen verbindlich in ihren Rechts- und Planungsgrundlagen zu verankern. Ein willkommenes Werkzeug, denn in einem System, in dem der Siedlungsraum ein Raum für langfristige Kapitalanlagen ist, wäre es naiv, auf Motivation und Freiwilligkeit zu setzen.

Entscheidungsträger sensibilisieren
Die planerischen Voraussetzungen für die Förderung der Biodiversität sind also auf gutem Weg. Was noch aussteht, ist die Sicherung des Bestands von ökologisch wertvollen Strukturen im Siedlungsraum sowie die Verankerung der Biodiversitätsförderung im Normenwesen. Das neue SIA-Merkblatt 2066 ‹Freiräume nachhaltig planen, bauen und pflegen› soll 2025 publiziert werden. Es richtet sich an Behörden, Projektentwicklerinnen, private und institutionelle Bauherrschaften und Planer der massgeblichen Fachspezialisten. Die zuständigen Entscheidungsträger sollen für die Bedeutung von Freiräumen – auch für die Biodiversität – sensibilisiert werden. Das Merkblatt soll ihnen aufzeigen, wie damit verbundene Themen bei der Planung und Gestaltung einer hochwertigen Siedlungsentwicklung nach innen von Beginn an berücksichtigt werden können.

Auch das vom Bafu mitgetragene Projekt ‹BioValues› arbeitet an einer Methodik und einem Webtool, das Planerinnen und Bauherrschaften in der Planungsphase bei der Integration von Massnahmen zur Förderung der Biodiversität am Gebäude und im Freiraum unterstützen soll. Die Testphase wurde diesen Frühling abgeschlossen.

Weichen früh genug stellen
Siedlungsräume sind multifunktional und müssen unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprüchen gerecht werden. Dazu gehören auch soziale Funktionen oder ihr Beitrag zur Klimaanpassung. Biodiversität im Siedlungsraum will also in Entwicklungsprozesse integriert, geplant und gestaltet sein. Auf allen Ebenen braucht es darum Menschen, die bei sämtlichen Entscheiden, die die Entwicklung und die Gestaltung unseres Lebensraums betreffen, eine hohe Sensibilität für das Thema an den Tag legen. Solche Menschen gibt es, und die Praxis harrt deshalb glücklicherweise nicht gesetzlicher Grundlagen und technischer Normen. Bauträger entwickeln innovative Projekte. Fachleute planen, bauen und pflegen vielfältige Räume als Teil des Stadtgefüges, die an die hohe Dynamik der Entwicklung und die unterschiedlichsten Bedürfnisse angepasst sind, und sie tun das mit neuen Methoden und neuer Ästhetik. Dem Unterhalt von Freiräumen kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Friedhöfe etwa sind Biodiversitäts-Hotspots und bis heute weitgehend vom Baudruck verschont geblieben. Durch eine angepasste Pflege kann ein erheblicher Mehrwert geschaffen werden: Heute werden rund 90 % der Verstorbenen eingeäschert, was viel weniger Platz braucht. Das spielt grosse Flächen frei, die zu artenreichen Wiesen aufgewertet werden können.

Biodiversitätsförderung beginnt aber nicht mit diesen Massnahmen, sie endet vielmehr damit. Bei Bauten und Grünanlagen werden die Weichen lange vorher gestellt: bei der kommunalen Biodiversitätspolitik. Bei der Abstimmung mit der Sozialpolitik. Bei der Anpassung des urbanen Raums an den Klimawandel. Beim Aufbau und der Stärkung der grünen Infrastruktur. Beim Wissen um ökologische Werte. Bei deren prioritärer Berücksichtigung in der Projektierung. Bei der Durchsetzung und der Kontrolle. Beim Fachwissen der Planenden und dessen Abrufung durch Behörden und Bauträger. Bei der fachgerechten Erstellung und Pflege. Wenn das alles abgehakt ist, kann man immer noch ein Bienenhotel aufstellen.

Beispiele gebauter Biodiversität
Gute Beispiele gibt es zuhauf, neue und ältere. Nach der Ölkrise 1973 stieg das Bewusstsein für die begrenzte Verfügbarkeit von fossiler Energie, ökologische Werte gewannen an Bedeutung. 1979 weihte die damalige Schweizerische Kreditanstalt den Verwaltungskomplex Uetlihof 1 am Siedlungsrand am Fuss des Uetlibergs ein. Die Freiraumgestaltung, geplant vom Landschaftsarchitekturbüro Stern und Partner, orientierte sich an der landschaftlichen Umgebung und erfolgte konsequent – was man später «naturnah» nannte. Auf dem Gelände und den Dachflächen entwickelte sich eine enorme Vielfalt an ökologisch hochwertigen Lebensräumen, die bis heute besteht: verschiedene Gehölzstrukturen, extensive Wiesentypen, Ruderalflächen, Gewässerlebensräume. Inklusive Uetlihof-Honig. Naturförderung ist auch gut für das Image. Seit 1997 zeichnet die Stiftung Natur & Wirtschaft Firmenareale und seit 2014 auch Freiräume von Wohnsiedlungen aus, bis heute insgesamt 540 an der Zahl. Ein aktuelles Beispiel ist die Erweiterung der Verwaltungsbauten des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation in Ittigen bei Bern. Das Ufergebiet der nahen Worble wurde als grosszügiger naturnaher Raum gestaltet und die Auenvegetation bis an die Gebäude geführt. Wege und kleine Aufenthaltsbereiche unter Erlen, Weiden und Eschen nahe dem Wasser machen den Uferraum zugänglich und erlebbar.

Auch im Wohnungsbau ist die Kombination von Erlebbarkeit und Biodiversitätsförderung wichtig. Davon zeugen etwa die üppig begrünte Siedlung Escherpark in Zürich, die Wohnüberbauung Ghiringhelli in Bellinzona oder das ‹Pièce urbaine E› im Lausanner Neubauquartier Plaines-du-Loup. Aussenräume von Schulanlagen zeigen sich ebenfalls in neuer Ästhetik, wie sich am Beispiel des Primarschulhauses Krämeracker in Uster konstatieren lässt. Mit feuchten Riedflächen, kiesigen und trockenen Hügelkuppen und einer reichen Laubwaldvegetation nimmt die Gestaltung typische Landschaftselemente der Gegend auf. Die Naturflächen bieten den Kindern Erlebnisräume, um Flora und Fauna zu entdecken, und dienen gleichzeitig als ökologische Ausgleichsflächen.

Ein langer Atem ist gefragt
Je grösser der Massstab, desto grösser die Zeithorizonte, in denen gedacht und geplant werden muss. Das Beispiel des Campus des Cèdres in Lausanne zeigt, dass eine langfristige, intensive Begleitung von Entwicklung und Pflege der Freiräume enorme Vorteile bringt. 20 Jahre hatte der Kanton Waadt das Büro Paysagestion damit beauftragt, den Campus nach den Grundlagen der differenzierten Pflege umzugestalten. Die zu Beginn festgelegten Ziele wurden nie aus den Augen verloren und konsequent umgesetzt: Förderung wasserdurchlässiger Flächen, sparsamere Pflege, Verwendung einheimischer Pflanzen, Umwandlung von Rasenflächen in Wiesen, Dachbegrünungen, Pflanzung von Obstgärten, Bau von Natursteinmauern, Anlegen von Feuchtgebieten und vieles mehr. So konnte dieses Stück Stadtlandschaft in einem dicht besiedelten Quartier mit hohem Baudruck als grüne Lunge erhalten werden. Ein Bewirtschaftungsplan für die Aussenanlagen leitet jeden Eingriff im Einklang mit der Natur und dem Standort. 

Auch kurzfristige und ephemere Gestaltungen bewirken viel: Sie können sensibilisieren, die Aufenthaltsqualität erhöhen und als Laboratorien für neue Ideen dienen. Bekannt sind Formate mit Ausstellungscharakter wie Lausanne Jardins, das heuer bereits zum siebten Mal stattfindet. Ein weiteres Beispiel kommt aus Genf: Im Rahmen seiner Baumstrategie hat der Kanton eine Machbarkeitsstudie zur Einrichtung eines Netzwerks partizipativer urbaner Baumschulen in Auftrag gegeben. Bisher wurden an drei Standorten temporäre Baumschulen realisiert. Am Collège et École de Commerce André-Chavanne wurden rund 250 Bäume, darunter 70 Obstbäume von Pro Specie Rara, gepflanzt. Mit diesen wurde 2022 in der Nähe der Schule ein Obstgarten angelegt. Gleichzeitig wurde ein Leitbild für die Renaturierung des Schulgebäudes erarbeitet, um die Biodiversität und die Aufenthaltsqualität zu erhöhen, die ökologische Infrastruktur zu stärken, aber auch um Wege zur Bekämpfung von Wärmeinseln aufzuzeigen.

Lorbeeren, um sich darauf auszuruhen, gäbe es also reichlich. Doch von Best Practice zu General Practice, vom Engagement Einzelner zur Selbstverständlichkeit aller, vom Laboratorium zur Norm ist es noch ein weiter Weg. Eine der härteren Nüsse ist das ästhetische Empfinden der breiten Öffentlichkeit. Es zeigt sich unerwartet resistent, zum Beispiel in Einfamilienhausgegenden. Alles muss sauber sein, aseptisch, monoton. Doch das Unerwartete, das Wuchernde, das nur zu 99 % Kontrollierbare ist Teil der Biodiversitätsförderung. Ein Grund mehr, sie ins Zentrum zu rücken.

Siedlung Escherpark, Zürich (Nipkow, 2015) Foto: Beat Nipkow
 

Wohnüberbauung Ghiringhelli, Bellinzona (Officina del Paesaggio, 2021) Foto: René Dürr

Campus des Cèdres, Lausanne (Paysagestion, 1998–2018) Foto: Simon Bailly

Credit Suisse Uetlihof 1, Zürich (Stern und Partner, 1979) Foto: ASP

Primarschulhaus Krämeracker, Uster (Ganz, 2019) Foto: Daniel Ganz

Uvek-Verwaltungsgebäude Pulverstrasse, Ittigen (ORT AG für Landschaftsarchitektur, 2019–2021) Foto: Hannes Henz


 

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