Dank seinem Elektrovelo erhielt Niklaus Reichle zweimal dreissig Minuten am Tag, in denen er endlich einmal nichts tat. Ausser Velo fahren. Und denken.
«Ehrlich gesagt gehörte ich zu den Menschen, die E-Bikes doof finden. Ich hatte die Vorstellung, dass das nur etwas für Menschen ist, die nicht gerne Velo fahren, und dass einem der Motor alle Arbeit abnimmt. Dann kaufte sich meine Frau ein E-Bike, das ich immer öfter auch nahm, um mit meinem Sohn an den Fluss zu fahren oder sonst irgendwohin in die Natur. Irgendwann benutzte ich meinen alten Renner kaum mehr. Ich war E-Bike-Fahrer geworden. Und das wird man nicht mehr so schnell los.
Als wir im Mai des letzten Jahres nach Rorschach zogen, kaufte ich mir dann selbst ein E-Bike, um zur Arbeit nach St. Gallen zu fahren. Dank der Unterstützung bis 25 km / h benötige ich für die Strecke bergauf dreissig Minuten: dreissig Minuten, in denen die schlechte Laune verschwindet, in denen Gedanken kommen, die ich vor dem Computer nicht habe. Denn dass ich bei der Arbeit zehn Minuten einfach nur nachdenke, gibt es kaum. Alles Mögliche lenkt mich davon ab. Meistens denkt man schon an die nächste Aufgabe oder füllt die Zeit mit irgendetwas. Im Zug krame ich sogar für eine Viertelstunde schnell etwas zum Lesen oder Arbeiten hervor, obwohl das meistens nicht viel bringt. Auf dem E-Bike dagegen kann ich nichts googeln und auch nichts aufschreiben. Dafür passiert etwas im Kopf. Wenn ich bei der Uni ankomme, brauche ich immer Zeit, um das festzuhalten.
Bei meiner Arbeit als Soziologe habe ich mich mit Velos auseinandergesetzt. In einem Forschungsmodul beschäftigten wir uns mit der Veloinfrastruktur der Stadt St. Gallen und der Frage, wie Planer Velostädte konzipieren. Die Inputs der Planer machten mir bewusst, dass viele auf dem Velo die Signaletik nur bedingt wahrnehmen, sie nicht verstehen oder schlicht ignorieren. Im Grunde ist das wenig erstaunlich. Ist die Veloinfrastruktur so lückenhaft wie in St. Gallen, gewöhnt man sich daran, seine eigenen Wege zu suchen. Man übersieht gekennzeichnete Velorouten, fährt ab und zu auf dem Trottoir oder über ein Rotlicht.
«Seit ich ein Elektrovelo besitze, habe ich keinen Bock mehr auf den öffentlichen Verkehr»
Was ich auch gemerkt habe: Seit ich ein Elektrovelo besitze, habe ich keinen Bock mehr auf den öffentlichen Verkehr und auf einen Fahrplan, der mir etwas diktiert. Von Rorschach bin ich oft um 22 Uhr noch zu meinen Freunden in die Stadt gefahren und um zwei Uhr morgens wieder zurück, unabhängig vom Wetter. Und entgegen meiner Annahme habe ich mich mit dem E-Bike viel mehr bewegt als mit meinem Schönwettervelo.
Nun ist meine Zeit als E-Bike-Pendler schon wieder vorbei, weil ich mit meiner Familie zurück in die Stadt gezogen bin. Dennoch benutze ich das Elektrovelo weiterhin. St. Gallen ist ja noch keine richtige Velostadt, nicht zuletzt wegen der Hügel. Mit dem E-Bike spielt das keine grosse Rolle. Es plättet das Terrain.»
Zugriff auf den er-fahrenen Alltag
Wie lässt sich das Erfahrungswissen von Velofahrenden, ihre Erfahrung mit der Verkehrsinfrastruktur, für städtische Planungen nutzbar machen? Gemeinsam mit der Geografin und Soziologin Anja Speyer erforschte Niklaus Reichle im September 2021 mit Studierenden der Ostschweizer Fachhochschule die Veloinfrastruktur in der Stadt St. Gallen. Mittels qualitativer Interviews mit Radkurierinnen und Busfahrern, Workshops mit Schulklassen und ethnografischer Beobachtungseinheiten näherte sich das Team den Alltagsperspektiven auf dem Velo. Die lokalen Nutzergruppen sind bestens vertraut mit den Bedingungen in ihrer Stadt. Sie können die Handlungsprobleme im Verkehr rekonstruieren, bestehende Qualitäten benennen und ihre Erfahrungen darlegen. Die Erforschung ihrer Perspektiven liefert daher wertvolle Datenschätze für künftige Planungsprozesse und möchte vor der eigentlichen Bedarfsanalyse einen beschreibenden Zugriff auf den er-fahrenen Alltag in Städten ermöglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich solche Daten für die Identifikation und Gewichtung von Schwachstellen im Verkehrsnetz eignen und dass sie dabei helfen, blinde Flecken in etablierten Planungsprozessen sichtbar zu machen.
Enormer Anstieg
2020 sind die Verkäufe von Elektrovelos in der Schweiz geradezu explodiert. Der Branchenverband Velosuisse meldete mit 171 132 Stück einen neuen Höchstwert. 2021 wurden sogar zum ersten Mal über 200 000 Elektrovelos in den Schweizer Markt geliefert. Die konventionellen Velos waren mit 63 Prozent Marktanteil aber noch immer in der Mehrzahl. Die Verkäufe steigen bei den E-Bikes jedoch überproportional an. Das wirkt sich auf die Unfallstatistiken aus. Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung verletzten sich im Jahr 2019 bei Unfällen auf einem Elektrovelo 355 Personen schwer – ein neuer Höchststand. Der Bundesrat wollte deshalb 2020 eine Helmpflicht durchsetzen, entschied sich aber nach der Vernehmlassung dagegen. Wer ein E-Bike mit einer Höchstgeschwindigkeit von 45 Kilometern pro Stunde fährt, ist allerdings jetzt schon zum Helmtragen verpflichtet.