Chance und Pflicht

Die Pfingstweidstrasse ist eine Asphaltwüste. Der Vorschlag zur Umgestaltung ist eine Chance für Zürich West – und mit Blick aufs Stadtklima eine Pflicht.

In Zusammenarbeit mit der Hamasil Stiftung

Die Pfingstweidstrasse ist eine Asphaltwüste. Der Vorschlag zur Umgestaltung ist eine Chance für Zürich West – und mit Blick aufs Stadtklima eine Pflicht.

Eine Arbeitsgruppe aus Urbanisten, Landschaftsarchitektinnen, Verkehrsplanern und Architekten präsentiert ein Projekt zur Umgestaltung der Pfingstweidstrasse: Aus einem ehemaligen Autobahnabschnitt soll der Pfingsthain entstehen. In unterschiedlicher Besetzung hat die Arbeitsgruppe letztes Jahr bereits Vorschläge für die Entwicklung des Welti-Furrer-Areals und des Josef-Areals erarbeitet. Handelte es sich bei den ersten beiden Vorschlägen um die Frage, wie auf wichtigen Arealen in Zürich gebaut oder umgebaut werden soll, steht beim Projekt Pfingsthain ein Strassenraum im Zentrum. Dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, liegt auf der Hand: Sowohl das Welti-Furrer- als auch das Josef-Areal grenzen an die Pfingstweidstrasse. Was an und auf ihr geschieht, hat Auswirkungen auf die beiden Areale und umgekehrt. Vor allem aber zeigen die drei Projekte, dass das dahinterstehende Anliegen umfassend und integral ist: Der Interessengemeinschaft Zentrum Hardbrücke (IGZH), bei der alle Fäden zusammenlaufen, geht es weder um ein einzelnes Grundstück noch um eine einzelne Fragestellung, sondern um die Zukunft des Quartiers Zürich West.

Das Sorgenkind

Über Zürich West und seine Geschichte ist schon viel geschrieben worden, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem ersten Vorschlag der IGZH zur Entwicklung des Welti- Furrer-Areals. Vor dem Hintergrund der neusten Idee für die Umgestaltung der Pfingstweidstrasse lohnt es sich dennoch, die wichtigsten Punkte in Erinnerung zu rufen.

Erstens: Zürich West war einst das Industriequartier von Zürich. Mit dem Wegzug der Industriebetriebe in den 1980er- und 1990er-Jahren waren viele Hoffnungen verbunden. Ein verbotener Stadtteil voller Atmosphäre, mit riesigen Flächen und charakteristischen Bauwerken öffnete sich für neue Nutzungen – was könnte hier nicht alles entstehen! Eine Zeit lang nisteten sich in Zürich West Restaurants, Clubs, Kultur- und Kleinbetriebe ein, eine Zeit lang war das ehemalige Industriequartier das pulsierende Herz von «Little Big City», eine Zeit lang stellte sich rund um den Bahnhof Hardbrücke so etwas wie ein Grossstadtfeeling ein. Mit der ‹Kooperativen Entwicklungsplanung Zürich West› und dem im Jahr 2000 daraus resultierten ‹Entwicklungskonzept Zürich West› einigten sich die privaten Grundeigentümer und die Stadt Zürich auf Leitplanken für die Weiterentwicklung des Quartiers. Weil keine dieser Leitplanken bindend war, stellte sich allerdings bald Ernüchterung ein: Nicht nur wurden je länger, je mehr identitätsstiftende Industriebauten abgerissen und mit mehrheitlich eigenschaftslosen Neubauten ersetzt, auch fanden in diesen Neubauten mehrheitlich Büros, aber keine Wohnungen Platz, und der im Entwicklungskonzept angemahnte Freiraum für zukünftige Quartierbewohner musste sich mit einer stiefmütterlichen Behandlung zufriedengeben. Darum ist das Industriequartier auf dem besten Weg, zu einem austauschbaren Geschäftsviertel zu werden. Es ist höchste Zeit, den Hebel umzulegen, zu erhalten, was an Industriesubstanz und kollektiver Erinnerung noch da ist, und umzubauen und anzupassen, was bereits gebaut ist, aber einem lebendigen und lebenswerten Zürich West entgegensteht. 

Zweitens: Zürich West hat ein Wohnproblem. Der Wohnanteil ist mit zwölf Prozent viel zu gering, als dass sich ein städtisches Alltagsleben einstellen könnte. Die dem Quartier verbundene Hamasil Stiftung fordert schon seit drei Jahrzehnten: Damit das Quartier leben kann, sind 30 Prozent Wohnungen nötig – grosse und kleine, gemeinnützige und freitragende. Das liesse sich laut Expertinnen ohne Krämpfe realisieren siehe ‹Der Pfingsthain macht Wohnen möglich›, Seite 22. Da die privaten Grundeigentümerschaften von Zürich West, rein finanziellen Interessen folgend, auf ihren Arealen vor allem Büros und Geschäftsräume gebaut haben, ist Zürich West momentan weit entfernt von einer ausgewogenen Nutzungsmischung. Wo es Wohnraum gibt, ist dieser zudem einem bestimmten Preissegment vorbehalten. Das schlägt sich unmittelbar in der städtischen Atmosphäre nieder: Zürich West ist ‹busy› während der Arbeitszeiten, aber leer in den Abendstunden und an den Wochenenden. Auf die Dauer stellt sich ein Doppelungseffekt ein: Wo nicht gelebt wird, möchte man auch nicht wohnen – es fehlt an Austausch, Nachbarschaften, an Verantwortungsgefühl und Verbundenheit zu einem Quartier, und damit fehlt es nicht zuletzt an sozialer Sicherheit. Auch hier ist dringend Umkehr und Umdenken geboten, bevor ein Kippmoment eintritt. 

Drittens: Zürich West leidet unter dem motorisierten Verkehr und unter der Vernachlässigung des öffentlichen Raums. Mit der Förrlibuckstrasse, der Pfingstweidstrasse und der Hardbrücke durchschneiden drei grosse Verkehrsachsen das Quartier. Die Auswirkungen auf den Langsamverkehr sind buchstäblich einschneidend, da die mehrspurigen Schneisen einen natürlichen Bewegungsfluss von Fussgängern und Velofahrerinnen kappen. Über lange Strecken bilden Pfingstweid- und Förrlibuckstrasse unüberwindbare Barrieren und verunmöglichen ein feinmaschiges Fusswegnetz. Die Strassen isolieren die Areale, verunmöglichen von vornherein, Zürich West als zusammenhängendes Ganzes wahrzunehmen und zu gebrauchen. Die Hardbrücke wiederum ist oben für Autos und Busse reserviert, während der Raum unter der Brücke sein Potenzial als einmaliger urbaner Ort nur sehr beschränkt entfaltet – Parkplätze und eine unübersichtliche Tram- und Verkehrsführung hintertreiben eine denkbare öffentliche Nutzung des gedeckten Raums. 

Gegen die Untätigkeit

Die skizzierten drei Sorgen hängen zusammen. Im Negativen verstärken sie sich: Wo nur Bürohäuser stehen, gibt es keine Wohnungen. Wo der Verkehr dröhnt und Fussgängerinnen an den Rand gedrängt werden, will man auch gar nicht wohnen. Wo kaum jemand wohnt, gibt es auch kein Stadt- und Quartierleben. Und ohne Stadtleben keine gemeinsame Sorge und Pflege des Quartiers. 

Im Positiven lässt sich derselbe Sachverhalt auch so beschreiben: Jeder Schritt hin zu einer lebendigeren, vielfältigeren Stadt hilft Zürich West auf allen Ebenen. Jeder Puzzlestein trägt zum grossen Ganzen bei. 

Wenn die IGZH mit der Idee Pfingsthain ihren Fokus von einzelnen Arealen auf den öffentlichen Raum lenkt, dann zeigt dies vor allem ihr Interesse an einer integralen Stadtplanung. Darin steckt nicht zuletzt eine Kritik an der Stadt Zürich. Es fehle an ‹urban governance›, sagt Alain Thierstein, Professor für Raumentwicklung und strategischer Berater der IGZH, im Gespräch siehe «Man muss das grosse Ganze im Blick haben», Seite 4. Die Kompetenzen seien auf verschiedene Fachbereiche verteilt, und Planungen beträfen nur einzelne Areale, niemand aber entwickle arealübergreifende Ideen und Strategien. Es ist diese Lücke, die die IGZH mit ihren Vorschlägen zu füllen versucht. Vorschläge, die nicht als einzelne Projekte gedacht sind, sondern als Teile eines grossen Ganzen. 

‹Blühende Pfingstweide› und ‹Josef will wohnen› waren Alternativvorschläge: Gegenüber den laufenden Planungen zeigten sie Wege auf, wie die Areale besser, reichhaltiger, wohnlicher und damit eben auch integraler, im Sinne eines lebendigen Zürich West gestaltet werden können. Ist der Ausgang auf dem Welti-Furrer-Areal noch offen, so ist der Zürcher Gemeinderat den Ideen von ‹Josef will wohnen› gefolgt und hat den Stadtrat verpflichtet, die Planung neu aufzugleisen. 

Im Unterschied dazu gibt es an der Pfingstweidstrasse kein Projekt und keine Planung, die es zu verhindern gilt. Der Vorschlag für einen 800 Meter langen Pfingsthain, der sich vom Bahnviadukt bei der Josefwiese im Osten bis zum Toni-Areal im Westen zieht, ist kein Gegenvorschlag, sondern ein optimistischer Entwurf für die Zukunft: Schaut, so könnte es ausschauen, so könnten wir leben! In der Pflicht steht dabei in erster Linie die Eidgenossenschaft als Eigentümerin. Vertreten durch das Bundesamt für Strassen (Astra) gehört ihr die Pfingstweidstrasse. Und da das Astra schweizweit sehr viel zu tun hat, schlägt die Arbeitsgruppe Pfingsthain ganz im Sinne des Föderalismus vor, das Strassenstück der Stadt Zürich zu übereignen. Und diese wird die Chance nutzen – sie weiss selbst am besten, was für das Quartier Zürich West gut und nützlich ist. Ohne Frage ist aber auch dieser Entwurf eine Kritik, ein Aufruf gegen das Nichtstun. Zürich West leidet auch unter dem, was nicht geschieht: an der Akzeptanz eines eigentlich inakzeptablen Status quo der öffentlichen Räume. Die Strassen sind nicht für die Menschen gemacht, Fussverkehrsverbindungen fehlen genauso wie Velonetze, und nicht zuletzt ist der zentrale Strassenraum rund um den Bahnhof Hardbrücke ein Unort, der die nachlässige Behandlung von Zürich West durch die städtische Verwaltung auf unschöne Weise deutlich werden lässt. 

Ein Hain bis zum Toni-Areal, dazu neue Wohnungen: Blick von der Hardbrücke (Illustration: Nicole Vögeli)

Die Unwirtlichkeit einer Strasse

Die Pfingstweidstrasse ist nicht irgendeine Strasse. Neben der Förrlibuckstrasse im Norden und der Josef- beziehungsweise Schiffbaustrasse, die beim Turbinenplatz abbricht, ist sie die zentrale Ost-West-Achse in Zürich West. Sie führt von der Hardturmstadionbrache im äusseren Zürich West bis zum Viadukt an der Josefwiese. Die dortige Situation ist symptomatisch: Historisch und stadtmorphologisch würde die Pfingstweidstrasse geradeaus in die Neugasse münden und so Zürich West mit dem Stadtzentrum verbinden. Die heutige räumliche Wahrnehmung ist aber eine andere: Von autobahnartigen Leitplanken gesäumt und im verkehrstechnisch optimierten Radius angelegt, macht die vierspurige Pfingstweidstrasse vor dem Viadukt eine 180-Grad-Kurve, um an der Geroldstrasse in eine grosse Rampe zu münden, die die Autos auf die Hardbrücke hinaufbefördert. Ähnlich autogerecht, also unwirtlich, gestaltet sich auch der Rest der Pfingstweidstrasse. Über die ganze Länge wird sie mit vier bis sechs Autospuren geführt. Dazu gesellen sich ein Tramtrassee mit zwei Spuren im Norden sowie bis zu zehn Meter breite Asphaltflächen, die als Trottoir zwischen Strasse und Gebäuden dienen. Es sind Restflächen, die mangels einer übergreifenden Idee von Freiraum einfach da sind, versiegelt und entsprechend heiss im Sommer. Vereinzelt gibt es Ansätze einer Gestaltung des öffentlichen Raums, namentlich vor dem 2019 erstellten Pfingstweid-Schulhaus oder vor der Hochschule der Künste (ZHdK). Doch diese unterstreichen mit ihrem fragmentarischen Charakter wiederum das Fehlen einer übergeordneten Idee für die Pfingstweidstrasse als öffentlichen Ort. 

Öffentliche Erdgeschossnutzungen sind rar und zeigen meistens gegen die Seitenstrassen, die in die jeweiligen Areale hineinführen. Bauten aus der Frühzeit der Umgestaltung des Industriequartiers wie der Technopark oder das Hotel Novotel wenden sich bezeichnenderweise ganz von der Pfingstweidstrasse ab und richten sich stattdessen auf den Turbinenplatz auf der anderen Seite aus. Nimmt man nun noch die Grossmassstäblichkeit und Uniformität der in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Bauten hinzu, stellt sich der Eindruck einer ebenso unwirtlichen wie langweiligen Strasse ein. Die Pfingstweidstrasse ist eine Strasse, die man schlecht überqueren kann, an der man nicht gerne entlangschreitet und auf der man sich noch weniger gern aufhält. Es ist eine Strasse, die nicht für den Menschen gedacht ist. Das hat freilich historische Gründe, ist aber angesichts der zentralen Lage und ihrer Bedeutung für Zürich West doch unhaltbar. 

Das Ende des Ypsilons ist der Anfang des Hains

Die historischen Gründe bündeln sich in der Idee des Zürcher Expressstrassen-Ypsilons, das die Zürcher Stadtentwicklungs- und Verkehrsdiskussionen während Jahren prägte. Das Ypsilon ist ein Kind der autoaffinen Nachkriegsjahre. 1955 von Verkehrsexperten konzipiert, sollte das Expressstrassen-Ypsilon die Autobahnen A1 und A3 im Verkehrsdreieck Letten, also mitten auf Stadtgebiet, zusammenführen. Das Projekt wurde in die Nationalstrassenplanung aufgenommen und 1962 vom Bund genehmigt. Der Widerstand in Zürich – angeführt von der legendären Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau (ZAS) um die Architektinnen und Architekten Beate Schnitter, Jakob Schilling, Rolf Keller, Benedikt Huber und andere – war vehement. 1971 wurde im Kanton Zürich eine Volksinitiative eingereicht, die verlangte, das Ypsilon aus dem geplanten Nationalstrassennetz zu streichen. Als die Initiative nach verschiedenen Querelen vors Volk kam, stimmte die Bevölkerung des Kantons dagegen, diejenige der Stadt dafür. Es folgten eine weitere Initiative und Vorstösse einer ausserparlamentarischen Kommission. Das Ypsilon war blockiert, wollte aber nicht sterben. Gebaut wurden Teilstücke: Der Milchbucktunnel bis zum Letten als Teil der A1 im Osten, die Sihlhochstrasse nach Wiedikon als Teil der A3 im Süden sowie die Pfingstweidstrasse bis zur Hardbrücke als Teil der A1 im Westen. 

Dass die Pfingstweidstrasse 1986 zur ‹Expressstrasse dritter Klasse› abgestuft wurde, änderte die Situation vor Ort nicht massgeblich. Als Teilstück einer potenziellen Autobahn blieb die Pfingstweidstrasse eine mehrspurige Asphaltschneise. Und obwohl sie offensichtlich überdimensioniert war, verhinderte die Aussicht auf einen späteren Ausbau zur Autobahn ihre Neukonzeption als innerstädtische Strasse. Dass das Ypsilon eine Idee der Vergangenheit war, wurde spätestens mit der Realisierung einer durchgängigen Autobahnumfahrung um Zürich klar. Gleichwohl blieb das Ypsilon hypothetischer Teil des Nationalstrassennetzes, bis es anfangs 2024 vom Bundesrat offiziell beerdigt wurde.

Der Vorschlag für einen Pfingsthain in Zürich West hat also einen aktuellen Anlass: Das lang ersehnte Ende des Ypsilons macht die Umgestaltung der Pfingstweidstrasse per sofort möglich.

Blick von Kreuzung Pfingstweid-/Turbinenstrasse Richtung Hardbrücke (Illustration: Nicole Vögeli)

Klimapflicht

Die positiven städtebaulichen Folgen eines Pfingsthains liegen auf der Hand. Erstens gewinnt Zürich West an bester Lage, im ‹Zentrum Hardbrücke›, einen attraktiven öffentlichen Ort mit einmaligem Charakter, einen Ort zum Verweilen statt Hindurchfahren. Zweitens etabliert der Pfingsthain qualitätsvolle neue räumliche Verbindungen: Nicht nur wird die Ost-West-Verbindung zwischen Viadukt und Toni-Areal für Fussverkehr und Velofahrende attraktiv, auch schaffen zahlreiche Querungen über die auf ein normales Mass zurechtgestutzte Strasse eine bislang kaum vorhandene Verknüpfung der Areale südlich und nördlich der Pfingstweidstrasse. Mit der Reduktion auf Tempo 30 werden drittens die Lärmemissionen massiv gesenkt, was Wohnen an der Pfingstweidstrasse nicht nur möglich, sondern – dem arkadischen Hain sei Dank – sogar ausgesprochen attraktiv macht. 

Zu all diesen Möglichkeiten und Chancen gesellt sich gleichzeitig eine Pflicht. Die aktuelle Gestaltung der Pfingstweidstrasse widerspricht allen Erkenntnissen in Bezug auf einen klimasensiblen Städte- und Strassenbau. Über weiteste Strecken versiegelt und asphaltiert, bietet die Strasse nur minimalen Raum für Grün, und was gepflanzt wird, folgt dem Primat der einfachen Pflege und der Nichtbehinderung des Verkehrs. 

Die Klimamodelle (Abb. 1 bis 3) des Teams von Markus Koschenz, Professor an der HSLU, machen deutlich, dass der Pfingsthain nicht nur ein Projekt der Stadtverschönerung und ein Beitrag zu einem lebenswerten und lebendigen Zürich West ist, sondern eine dringend gebotene Massnahme, um die Folgen der Klimakrise abzumildern. 

Bleibt die Pfingstweidstrasse die Asphaltwüste, die sie heute ist, wird sie sich in den kommenden Jahrzehnten zu einer Hitzeinsel entwickeln: Die von Koschenz entwickelte Quartierklimamodellierung zeigt, dass die Temperatur im repräsentativen Klimaszenario RCP 8.5 an der Pfingstweidstrasse bis zum Jahr 2060 steigen würde und sich die Gebiete, die als heiss bis sehr heiss empfunden werden, über den Strassenraum auszubreiten beginnen würden. Eine Modellrechnung mit der vorgeschlagenen Bepflanzung des Pfingsthains beweist hingegen, dass die Temperaturen an den meisten Orten trotz Klimawandel gleich bleiben oder sogar sinken würden. Der Klimaeffekt des Pfingsthains tritt allerdings nur ein, wenn die Bäume und Pflanzen bis 2060 auf eine respektable Grösse gewachsen sind – oder vielmehr: wenn sie heute oder spätestens morgen gepflanzt werden. Und damit wird aus der Chance eine dringende Pflicht. ●

Der Pfingsthain und das thermische Empfinden des Menschen

Markus Koschenz, Andrii Zakovorotnyi, Reto Marek und Livio Keiser von der Hochschule Luzern haben mit der Quartier- klimamodellierung (QKM) ein interaktives Planungsinstrument entwickelt, das präzise Aussagen zum Zusammenwirken von Bauvolumen, Bäumen, Pflanzen und Bodenoberflächen auf das thermische Empfinden des Menschen erlaubt.
Die drei Abbildungen zeigen, wie oft die physiologisch äquivalente Temperatur auf über 35 Grad steigt und vom Menschen als heiss bis sehr heiss wahrgenommen wird. Berechnet wurde sowohl die Situation im Jahr 2020 mit bestehender Bebauung und Bepflanzung (1), die Situation im Jahr 2060 mit angenommener Temperaturerwärmung gemäss globalem Klimaszenario und unter Berücksich- tigung der zwei neuen Gebäude und des Wachstums der bestehenden Bepflan-zung (2) sowie die Situation 2060, wie sie sich mit gewachsenem Pfingsthain präsentiert.
Genaues Hinschauen lohnt sich: Erkennbar wird, dass die bereits vorhandenen und in den nächsten 40 Jahren weiterwachsenden Bäume die Temperaturerhöhung teilweise ausgleichen können. 
Allerdings nehmen die als sehr heiss empfundenen Flächen überall dort zu, wo es keine Bepflanzung und Entsiegelung gibt. 
Mit dem Pfingsthain kann die durch den Klimawandel hervorgerufene Erhitzung der Pfingstweidstrasse auf wenige exponierte Stellen beschränkt werden. Über weite Strecken gelingt sogar eine Umkehr: Trotz allgemeiner Temperaturerhöhung wird es 2060 an der Pfingstweidstrasse kühler sein als heute. Das QKM zeigt also: Der Pfingsthain ist ein notwendiger Beitrag an die Kühlung einer sich erwärmenden Stadt.

Abbildung 1: Stunden pro Tag mit einer PET > 35° C mit bestehender Begrünung, Klimabedingungen 2020.

Abbildung 2: Stunden pro Tag mit einer PET > 35° C mit bestehender Begrünung, Klimabedingungen 2060.

Abbildung 3: Stunden pro Tag mit einer PET > 35° C mit bestehender und geplanter Begrünung, Klimabedingungen 2060.

Wissenschaftliche Erläuterungen:

Für jeden Punkt im betrachteten Perimeter sind in den drei Abbildungen die Stunden pro Tag summiert, in denen die physiologisch äquivalente Temperatur (PET) über einen Wert von 35 Grad steigt und somit ein Wärmeempfinden von heiss bis sehr heiss beim Menschen auslöst. 
Die physiologisch äquivalente Temperatur PET ist definiert als die Lufttemperatur, die erforderlich ist, um in einer standardisierten Innenraumumgebung (ohne Wind und Solarstrahlung) bei einer standardisierten Person die gleiche Kern- und Hauttemperatur zu reproduzieren, wie sie unter den zu bewertenden komplexen Bedingungen im Aussenraum herrscht.
«Stunden am Tag» meint die ausgewertete Zeitperiode jeweils vom 1. Juni bis 31. August zwischen 8 und 20 Uhr mit einem Total von 1104 Stunden. Die PET-Werte werden auf zwei Meter über Boden berechnet. 
Für das Medianjahr 2060 wird vom Klimaszenario RCP 8.5 (Repräsentativer Konzentrationspfad bei einem zusätzlichen Strahlungsantrieb von 8,5 W / m2) ausgegangen.
Gut ersichtlich ist die Reduktion der summierten Stunden mit einer PET > 35° C durch das Wachstum der bestehenden Bäume im Zeitraum 2020–2060, z. B. A1 zu A2, und durch die geplanten Begrünungen, z. B. B1 zu B2. Es wird aber auch ersichtlich, dass sich die summierten Stunden mit einer PET > 35° C trotz der Bepflanzungen klimabedingt an einigen Stellen – hervorgerufen durch die klimatischen Veränderungen im Zeitraum 2020–2060 – erhöhen, z. B. C1 zu C3.

Quartierklimamodellierung (QKM) in der frühen Planungsphase

Die Städte- und Quartierplanung erhält in Zeiten des Klimawandels eine neue Dimension. Die Auswirkungen der städtebaulichen Setzung oder die Wirkung von Begrünungs- und Entsiegelungsmassnahmen auf das Mikroklima müssen frühzeitig in die Planung einbezogen werden. 
Das verlangt nach einem interaktiven Planungsinstrument, das die mikroklimatischen Auswirkungen von verschiedenen Entwürfen rasch sichtbar macht. 
Die Hochschule Luzern, Technik & Architektur, hat für diese Aufgabe ein schnell rechnendes Softwareinstrument mit dem Namen QKM entwickelt, das Architektinnen, Landschaftsplanern und Fachplanerinnen in der Entscheidungsfindung unterstützt.
Detaillierte Informationen zu QKM finden Sie auf der Website www.hslu.ch unter dem Suchbegriff «Quartierklimamodellierung».

Die Entwicklung von QKM wurde durch die Stiftung Infinite Elements und durch die HSLU finanziert.
 

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