Über die Qualität von Lebensräumen diskutieren

Die SBB ist eine der grössten Bauherrinnen im Land. Wie will sie die vom Bundesrat 2020 verabschiedete ‹Strategie Baukultur› umsetzen? Eine Spurensuche.

Fotos: Rolf Siegenthaler
In Zusammenarbeit mit SBB Immobilien

Die SBB ist eine der grössten Bauherrinnen im Land. Wie will sie die vom Bundesrat 2020 verabschiedete ‹Strategie Baukultur› umsetzen? Eine Spurensuche.

2005 regnete es Preise für die SBB. Gleich drei der renommierten Brunel Awards für herausragende Leistungen in Architektur und Bahninfrastruktur durfte der damalige Generaldirektor Benedikt Weibel entgegennehmen. Und obendrein gabs den Wakkerpreis. Denn zum 100. Geburtstag hatte sich der Schweizer Heimatschutz etwas Besonderes ausgedacht: Statt eine Gemeinde zu würdigen, die sich um ihr baukulturelles Erbe und eine lebenswerte Umgebung für die Menschen kümmert, gabs Lob für die SBB. Die Begründung: Baukultur sei Teil der Firmenkultur. Natürlich verstand der SBB-Chef den Fingerzeig des Heimatschutzes und bezeichnete den Wakkerpreis «nicht nur als Schulterklopfen, sondern auch als Ansporn zu Sorgfalt und Umsicht beim weiteren Wirken». Denn als die SBB 1999 vom Bundesbetrieb zur Aktiengesellschaft wurde, galt es, den desolaten Zustand der SBB-Pensionskasse wieder ins Lot zu bringen. Statt sich nur um das angestammte Geschäft zu kümmern, lautete der zusätzliche Auftrag, im Immobiliengeschäft Geld zu verdienen. Grosse Areale, die für den Bahnbetrieb nicht mehr gebraucht wurden, lockten als Chance.

Baukultur messbar machen
«Die SBB hat bei Umbauten und Sanierungen im Vergleich zu privaten Investoren tatsächlich eine hohe Sensibilität für das baukulturelle Erbe», konstatiert Patrick Schoeck, der beim Schweizer Heimatschutz für den Bereich Baukultur zuständig ist. Schoeck erinnert an die interne Fachstelle für Denkmalschutz, die seit 2001 den Umgang mit historischer Bausubstanz beurteilt. Gleichzeitig beobachtet er, dass die Qualität der Neubauten der SBB zwar solid, aber nicht wirklich überragend sei. Ob die SBB den Wakkerpreis rund 20 Jahre später auch noch erhalten würde? Schoeck windet sich und sagt, er fände es interessant, die Bauprojekte der SBB mit dem ‹Davos Quality System› zu prüfen. 2021 hat das Bundesamt für Kultur (BAK) dieses Punktesystem entwickelt, um die vom Bundesrat geforderte Baukultur messen und damit auch fördern zu können. Davon aber später mehr.


Die Bevölkerung kann das ehemalige Güterareal vielfältig nutzen. | La population peut utiliser l’ancienne zone de marchandises de façon variée.

Für Lukas Bühlmann ist klar: «Die SBB hat ein hohes Bewusstsein für Baukultur.» Bühlmann war während 30 Jahren für den Raumplanungsverband Espace Suisse tätig, zuletzt als Direktor. Er kommt sogleich auf die Europaallee in Zürich zu sprechen. Zwischen 2004 und 2020 hat die SBB ein Stadtquartier zwischen Sihlpost und Langstrasse entwickelt, geplant, realisiert – und dafür viel Kritik eingesteckt. Die Europaallee sei wuchtig, monoton, rücksichtlos, misslungen, ein Luxusprojekt. Mit diesem «Geschimpfe» kann Bühlmann nichts anfangen. «Die Strukturen der Quartiere wurden hier übernommen, es gibt fliessende Übergänge, die Europaallee ist belebt, und die Erdgeschossnutzung funktioniert.» Die SBB hätte hier einen Ort mit Aufenthaltsqualität geschaffen, ganz im Gegensatz zu der Post mit ihrem Postparc in Bern.

BAK und SBB ziehen am selben Strick
Oliver Martin nickt. Seit zehn Jahren leitet er im BAK die Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege, die 2021 in Sektion Baukultur umbenannt wurde. Die Umbenennung kann als logische Konsequenz verstanden werden: 2016 lancierte der Bund eine eigentliche Baukulturpolitik mit einer Reihe von Massnahmen, 2018 verabschiedeten die europäischen Kulturminister auf Einladung von Bundesrat Alain Berset die ‹Deklaration von Davos›. Unter der Federführung des BAK wurde die ‹Strategie Baukultur› verfasst und vom Bundesrat abgesegnet. «Die SBB gehört dem Bund und bekennt sich darum auch zur hohen Baukultur im umfassenden Sinn», erklärt Oliver Martin. Die SBB sei für ihren Anspruch an die Architektur berühmt gewesen, man denke nur an die Gallionsfiguren Max Vogt (1925–2019) oder Uli Huber (* 1938), der das Gesicht der SBB als Chefarchitekt 20 Jahre lang mitgeprägt habe. Aber in jüngster Zeit wurden technische Aspekte und kurzfristige Wirtschaftlichkeit wichtiger und die baukulturelle Qualität vernachlässigt, bemerkt Martin. Die ‹Strategie Baukultur› hält denn auch schwarz auf weiss fest: «Das Qualitätsbewusstsein der SBB hat zunehmend einem renditeorientierten Denken Platz gemacht, insbesondere im Immobilienbereich.» Doch Martin, der wie ein Löwe für eine hohe Baukultur kämpft, sieht hoffnungsvoll in die Zukunft: «Jetzt ist das Thema Baukultur wieder wichtig. Das BAK und die SBB ziehen am selben Strick.»

«Ich erinnere mich nicht, dass wir während der Entwicklung der Europaallee das Wort Baukultur explizit verwendet haben», sagt Andreas Steiger, der bei SBB Immobilien als Teamleiter Development Europaallee das Projekt verantwortete. Als Steiger 1992 zur SBB stiess, existierte noch keine Division Immobilien. Um die Nutzung der Liegenschaften kümmerten sich zum Teil ehemalige Bahnhofvorstände, die Entwicklung und Umnutzung von SBB-Arealen überliess man gerne Dritten. Mit der Gründung der Division SBB Immobilien kam Schwung in die Sache: 2003 teilte die SBB mit, dass in Kooperation mit der Post und der Stadt Zürich ein neues Entwicklungskonzept für das Gebiet der heutigen Europaallee in Arbeit sei. Das Thema Baukultur sei, implizit und ohne benannt zu werden, wie selbstverständlich vorhanden gewesen, betont Steiger. Denn eine sinnvolle Verdichtung lasse sich nicht nur über Zahlen definieren, dafür brauche es auch architektonische und städtebauliche Qualität. Baukultur ist Rendite für die Zukunft, und wenn die SBB bei Arealentwicklungen die Federführung habe, komme es architektonisch und städtebaulich gut, ist Steiger überzeugt.

2022 – ‹Jahr der Baukultur›
«Wir sind konsequenter geworden», ergänzt Susanne Zenker, die seit 2019 den SBB-Bereich Development leitet und Mitglied der Geschäftsleitung von SBB Immobilien ist. Die SBB habe gelernt, früh die Zusammenarbeit mit den Gemeinden zu suchen und in Partizipationsverfahren die Bevölkerung und Interessengruppen miteinzubeziehen sowie die Jurys mit weniger SBB-Leuten und dafür mit mehr unabhängigen Fachjurorinnen zu besetzen. «Es erhöht die Chance enorm, hohe Baukultur zu erhalten, wenn man die Schritte vom städtebaulichen Studienauftrag zum Architekturwettbewerb einhält und mit Partizipation begleitet», sagt Zenker. Da Schritte auszulassen, um schneller voranzukommen, lohne sich nicht, denn am Schluss dauere es doch länger und das Ergebnis sei schlechter.

Für den Bereich Development hat Susanne Zenker dieses Jahr zum ‹Jahr der Baukultur› erklärt. Warum? Das Thema sei vielschichtig und ein gutes Vehikel, um über die Qualität von Lebensräumen zu diskutieren. Denn Baukultur ist mehr als ein schönes Haus. «Ein belebter Ort, an dem sich viele Menschen wohlfühlen, ist vermutlich ein Indiz für hohe Baukultur», so Zenker. Die studierte Architektin begrüsst die Bemühungen des Bundes, die Baukultur voranzutreiben. Auch darum vertritt sie als Stiftungsrätin die SBB in der Stiftung Baukultur Schweiz. Für einen der grössten Immobilienplayer, dem Grundstücke an zentralster Lage gehören, sei das logisch. Das ‹Davos Quality System› erachtet Zenker allerdings nur als beschränkt sinnvoll. Die Qualität eines Ortes anhand der Kriterien Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius Loci und Schönheit zu diskutieren, sei richtig. Das Ganze jedoch mit Punkten zu bewerten und zu bemessen, führe letztendlich zu einer Nivellierung, vermutet Zenker. «Unsere Wettbewerbe mit ihrer Diskussionskultur und dem einstimmigen Entscheid der Jury schaffen mehr Baukultur als Kalkulationen mit Punkten.» Wenn es wieder Preise regnet, weiss die SBB: Sie macht es richtig. 2021 ist mit der ‹Auszeichnung für gute Bauten› der Stadt Zürich bereits ein schöner Preistropfen auf die dichte, aber feinteilige Überbauung Gleistribüne Zollstrasse Ost beim Zürcher Hauptbahnhof gefallen.

 

 

 

Débattre de la qualité des espaces de vie

Lorsqu’en 1999 les CFF, entreprise fédérale, devinrent une société anonyme, vint s’ajouter à l’activité traditionnelle la mission de gagner de l’argent dans l’immobilier. De grands sites d’exploitation ferroviaire hors d’usage devinrent de belles opportunités. Quel en fut l’impact sur la culture du bâti? Les avis sur le sujet divergent.

Patrick Schoeck, de Patrimoine suisse, reconnaît aux CFF une sensibilité accrue pour le patrimoine bâti. Mais la qualité de leurs nouveaux ouvrages est bonne, sans être exceptionnelle. Pour Lukas Bühlmann, directeur de longue date de l’Association pour l’aménagement du territoire EspaceSuisse, les CFF ont un sens élevé de la culture du bâti. Il ne partage pas les critiques envers le quartier Europaallee à Zurich, près de la gare centrale, conçu et réalisé par les CFF: «Les structures de quartier ont été intégrées, les transitions sont fluides. L’Europaallee est animé et l’utilisation des rez-de-chaussée fonctionne bien.»

En 2016, la Confédération initiait une politique de la culture du bâti et en 2018, les ministres européens de la culture adoptaient la ‹Déclaration de Davos›. Sous l’égide de l’Office fédéral de la culture (OFC), la ‹Stratégie Culture du bâti› vit le jour. Oliver Martin, chef de la section Culture du bâti à l’OFC confie: «Les CFF appartiennent à la Confédération et défendent donc aussi une culture du bâti de qualité au sens large.» Mais ces derniers temps, aspects techniques et rentabilité à court terme occupent une place plus importante, ce que constate aussi la Stratégie Culture du bâti: «Le sens de la qualité des CFF a fait cependant de plus en plus place à une attitude orientée sur le rendement, en particulier dans le domaine immobilier.» Oliver Martin se veut toutefois optimiste pour l’avenir: «La question de la culture du bâti a retrouvé de l’importance. L’OFC et les CFF tirent à la même corde.»

«Nous sommes plus rigoureux», ajoute Susanne Zenker, responsable Développement aux CFF depuis 2019. Selon elle, les CFF intègrent davantage d’experts indépendants dans les jurys, cherchent plus rapidement à collaborer avec les communes et associent la population et les groupes d’intérêts. Susanne Zenker a déclaré 2022 ‹Année de la culture du bâti› pour l’unité Développement des CFF. Elle juge pourtant peu pertinent le Système Davos de qualité pour la culture du bâti élaboré par l’OFC: s’il est juste de débattre de la qualité d’un site à l’aide de critères, attribuer des points pour l’ensemble d’un ouvrage finit par entraîner un nivellement. «Nos concours génèrent davantage de culture du bâti en encourageant le débat et en recherchant l’unanimité du jury qu’en s’appuyant sur des calculs de points.»

Kommentare

Kommentar schreiben