Massstab S: Richtig dicht

Herzog & de Meuron planen an der Badenerstrasse in Zürich eine Überbauung nach Regelbauvorschriften. Das Projekt geht an die Grenze hiesiger Vorstellungen von städtischer Dichte.

Fotos: Herzog & de Meuron
In Zusammenarbeit mit Senn

Herzog & de Meuron planen an der Badenerstrasse in Zürich eine Überbauung nach Regelbauvorschriften. Das Projekt geht an die Grenze hiesiger Vorstellungen von städtischer Dichte.

«Bei Senn sprechen wir oft von der Liebe zum Ort», sagt Richard Krayss. «Uns interessieren die herausfordernden Orte. Wir wollen die Stadt weiterbauen – entwickeln, wo es nachhaltig und sinnvoll ist.» Der Projektleiter sitzt mit einem Espresso vor dem ‹Lindentreff› und arbeitet am Laptop. Ein paar Meter neben dem Tisch lärmt der Verkehr der Badenerstrasse. Das Kebab-Lokal liegt dem betriebsamen Lindenplatz gegenüber, mitten in Zürich-Altstetten. In zwei Jahren wird es – wenn Krayss’ Plan aufgeht – verschwunden sein. Zusammen mit dem benachbarten Kleingewerbe, Büros und einem Wohnhaus macht es sechs neuen Mehrfamilienhäusern mit insgesamt 72 Wohnungen Platz. Entlang der Badenerstrasse soll es im Erdgeschoss wieder Gewerbeflächen und ein Bistro geben.

Die erste Herausforderung war der Erwerb des Grundstücks: Das Areal nimmt an der Badenerstrasse gut 55 Meter ein und reicht entlang der Segnesstrasse ebenso weit in die Tiefe. Es setzt sich aus sieben Parzellen zusammen, die Senn in einem Bieterverfahren von verschiedenen Besitzern erworben hat. Von den ersten Kontaktaufnahmen bis zum Start der Bebauungsstudien vergingen fast zwei Jahre. Im Herbst 2021 laufen sämtliche Mietverträge aus.

Bis zu zehn Geschosse hoch steht die Überbauung an der Strasse.

Die zweite Schwierigkeit ist der bauliche Kontext: Die Badenerstrasse ist nicht nur eine der verkehrsreichsten, sondern auch eine der lebendigsten Achsen von Zürich. Zwischen ihrem Anfang in der Innenstadt und ihrem Ende an der Stadtgrenze zu Schlieren reihen sich gründerzeitliche Backsteinbauten nahtlos an gläserne Büroblocks aus den Siebzigern oder an die bunt verputzten Aussendämmungen neuerer Mehrfamilienhäuser. Der Quartierbäcker liegt ganz selbstverständlich neben einem Autohaus oder einem Nachtclub. Hier mischen sich Alter, Kulturen und Einkommensschichten.

Die Badenerstrasse befindet sich aber auch im Wandel, und das bedeutet aktuell vor allem Verdichtung. Die neue städtische Bau- und Zonenordnung ermöglicht entlang des Strassenzugs eine dichtere und höhere Bebauung als die bestehende. Nicht zuletzt will die Stadt damit die kleinteiligeren Quartiere dahinter entlasten.

Das Grundstück von Senn liegt noch an einer weiteren Entwicklungsachse: Das Zentrumsgebiet von Altstetten, zwischen Grünau und Badenerstrasse, soll sich künftig neben der Innenstadt und Oerlikon zu einem dritten urbanen Schwerpunkt entwickeln und entscheidend zur Schaffung von neuem Wohnraum beitragen. So will es der kommunale Siedlungsrichtplan. An Ausnützungsreserven mangelt es dem Areal jedenfalls nicht: Heute besetzen eingeschossige Schuppen und parkierte Autos das gesamte Innere des Areals. Die zulässige Ausnützung beträgt im vorderen Teil des Areals derweil 200 Prozent, im hinteren 205. Sogar Hochhäuser bis 80 Meter sind hier erlaubt.

Der Stadtbaustein setzt an der Badenerstrasse einen markanten Akzent.

Städtebau-Tetris

«Wir haben eine Variante mit Hochhaus geprüft, fanden einen so markanten Hochpunkt an dem Ort aber nicht angemessen», sagt Robert Hösl von Herzog & de Meuron Architekten, die Senn für die Überbauung direkt beauftragte. Gemeinsam hatten die beiden Firmen 2014 schon das Wohn- und Lagerhaus Helsinki im Basler Dreispitz realisiert, das die Auszeichnung Guter Bauten BS / BL 2018 gewann und dessen Sockel die Architekten selbst nutzen. Charakteristisch für die Badenerstrasse sind laut Hösl eher gemässigte Akzente, beispielsweise an Kreuzungen. «Ein grosser Wohnklotz, wie es in der Nähe bereits einige gibt, sollte es aber auch nicht sein. Diese gehen mit dem Aussenraum sehr uninspiriert um.» Inspirierend fanden die Architekten hingegen die dicht beieinanderstehenden Stadthäuser, die sie beispielsweise im Geviert gleich nebenan entdeckten, und die Typologie der Zürcher Baumeisterhäuser: «Das sind kompakte Volumen mit Gewerbe im Erdgeschoss und Wohnungen darüber – verschiedene Gebäude, die untereinander ausdifferenziert sind, aber eng zusammenstehen und eine interessante Raumstaffelung ermöglichen.»

Um das Bewilligungsverfahren nicht unnötig zu verlängern, entschieden sich Senn und die Architekten für die Regelbauweise. Wer das Ensemble allerdings an der schweizerischen Vorstellung von Dichte misst, schluckt erst einmal leer: An der Badenerstrasse markiert ein dreissig Meter hoher Turm die Ecke zum Lindenplatz, daneben liegt ein langgezogener Sechsgeschosser mit Attika. Brückenartige Balkone überspannen den gerade einmal vier Meter breiten Durchgang zwischen den beiden Gebäuden. Dahinter befinden sich vier weitere Punkthäuser mit vier bis sechs Vollgeschossen und Attika. Auch sie liegen nur fünf bis sieben Meter auseinander. Je zwei teilen sich eine aussenliegende Erschliessung, die sich – geschossweise versetzt – zu Balkonen ausweitet. Verputzte Lochfassaden umhüllen die sechs kantigen Kuben mitsamt den mehrgeschossigen Erkern, die sich zu allen Seiten herausschieben. In ihrer Gesamtheit erinnert die geometrische Figur an ein dreidimensionales Tetris.

«Der Treiber dafür ist das Zürcher Baugesetz», sagt Hösl. «Mit den unzähligen Vorgaben zu Erkern, Attika oder dem Zürcher Untergeschoss ist seine Handhabung sehr anspruchsvoll.» Die Architekten entwickelten ein geometrisches Spiel mit den Bauvolumen. So reagierten sie auf die Herausforderung, die baurechtlichen Möglichkeiten zugunsten der von Senn geforderten hohen Dichte voll auszuschöpfen und zugleich spannende Innen- und Aussenräume zu formen. Um sich der Qualität der verschachtelten Aussenräume zu versichern, schlüpften die Architekten mit Virtual-Reality-Brillen in ihr digitales Modell. «Unsere grösste Sorge war, dass es beengend wirken könnte», sagt Hösl. Vom virtuellen Projekt ist er nun aber überzeugt: «Die engsten Räume sind die spannendsten!» Dazu sollen auch vertikale Begrünungen an zwei Fassaden und den Balkonen beitragen.

Modellbild der Rückseite

Drei Mal urbanes Wohnen

Das reale Raumerlebnis bleibt abzuwarten. Bemerkenswert ist allerdings schon jetzt, dass den Architekten trotz der massiven Lärmbelastung an der Badenerstrasse erstens ein durchlässiger Stadtraum und zweitens ein auf den Ort zugeschnittener Städtebau gelang. Das Nutzungskonzept führt diese Qualität konsequent weiter: Die Gewerbeflächen im Turm und im Langhaus nehmen das gesamte Erdgeschoss ein und öffnen sich auch zur strassenabgewandten Seite. Das ermöglicht zum Beispiel ein Café mit lärmgeschütztem Aussenbereich – ein Mehrwert für das ganze Quartier.

Passend dazu bieten die Mietwohnungen darüber zwei Varianten urbanen Wohnens: Der Turm beherbergt bis ins achte Obergeschoss pro Stockwerk je zwei grosse Zweieinhalbzimmerwohnungen und zuoberst eine einzige mit viereinhalb Zimmern. Gut verdienende Singles und Paare werden sich hier wohlfühlen. Etwas knapper geschnitten sind die günstigeren Lofts im Langhaus. Ihre offenen Wohnräume erstrecken sich über die gesamte Gebäudetiefe, was lärmabgewandtes Lüften ermöglicht. Eine gemeinschaftliche Dachterrasse ersetzt private Balkone.

In der Tiefe der Parzelle nimmt der öffentliche Charakter der Aussenräume ab. Der Pflastersteinbelag weicht zunehmend einer Gartenlandschaft mit Wildstauden und feinästigen Bäumen. Zwischen den Balkonen wachsen Sträucher und ranken sich Schlingpflanzen empor. Auch ohne Zaun und Hinweisschilder ist klar: Jetzt wird es privat. Mit gutem Grund, denn in den vier Gartenhäusern sind auch die Erdgeschosse bewohnt – nur die Tiefgarageneinfahrt bohrt sich von der Segnesstrasse her durch eines von ihnen. Die privatere Lage widerspiegelt sich in den Grundrissen der Eigentumswohnungen. Hösl erklärt: «Sie richten sich immer nach mehreren Seiten aus; teilweise nach allen vieren. Das Gefühl ist fast wie in einem Einfamilienhaus.» Die Bandbreite reicht vom minimalistischen Studio bis zur familientauglichen Viereinhalbzimmerwohnung. Allzu viel Einfamilienhaus-Atmosphäre wird aber nicht aufkommen: Die konsequente Ausrichtung der Wohnräume und Balkone auf die gemeinschaftliche Erschliessung garantiert nachbarschaftlichen Kontakt.

Die unterschiedlichen Wohnformen sollen eine breite Klientel ansprechen und so für eine durchmischte Bewohnerschaft sorgen: ein zahlungskräftiges Mietpublikum im Turm, gemeinschaftlich orientierte Loft-Bewohner im Langhaus, stadtbewusste Wohneigentümer in den Gartenhäusern. Ob und wie das Zusammenleben in diesem Mikrokosmos funktioniert, wird spannend zu sehen sein. Senn glaubt daran, dass die urbanen Menschen es richtig dicht mögen. Dichter werden unsere Städte sowieso. Mutige Vorschläge, wie die bauliche Verdichtung qualitätsvoll gelingen soll, sind deshalb dringend gefragt.

Blick in den Zwischenraum

Dieser Artikel ist Teil des Themenfokus «Senn entwickelt», den Hochparterre in Zusammenarbeit mit Senn erstellt hat.

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