Dicht am Gleis
Die Eisenbahn ist zum Antrieb der baulichen Verdichtung prädestiniert. Voraussetzung dafür ist, die Verkehrs- und die Raumplanung zu verschränken. Es ist Zeit für einen Ideenwettbewerb.
Am letzten Samstag im August sind im Berner Seeland Reden gehalten und ein Signal auf Grün gestellt worden. Anlass dafür bot die Eröffnung eines Eisenbahntunnels: des Rosshäuserntunnels. Durch ihn umfahren die Züge zwischen Bern und Neuenburg den Weiler, der ihm den Namen gibt. Kostenpunkt: 265 Millionen Franken. Nutzen: Doppelspur statt Einspur und eineinhalb Minuten weniger Fahrzeit. Wirkung auf die Siedlungsentwicklung: keine. Der Rosshäuserntunnel ist ein prägnantes Beispiel für die Art und Weise, wie die Bahn in der Schweiz ausgebaut wird.
Das knapp zwei Kilometer lange Bauwerk war 2005 der grösste Brocken eines Investitionspakets, das National- und Ständerat unter dem Titel ‹Anschlüsse an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz› verabschiedet hatten. Er werde die TGV-Verbindung Bern–Paris beschleunigen und die Kapazität dieser Strecke erhöhen, hiess es damals. Inzwischen verkehrt längst kein TGV mehr von Bern über Neuenburg nach Paris. Die Direktverbindung Bern–Paris führt seit 2013 über Basel, weil dieser Weg dank Neubaustrecken in Frankreich zeitlich kürzer geworden ist. Den grössten Nutzen hat der Tunnel anlässlich seines Beschlusses entfaltet. Im regionalpolitischen Basar, der die Verkehrsinfrastrukturpolitik der Schweiz prägt, hat er dafür gesorgt, dass auch jener Landstrich nicht leer ausging, der damals Espace Mittelland hiess und sich heute Hauptstadtregion nennt.
Die Regionalpolitiker haben ein einfaches Spiel, weil die Eidgenossenschaft sich bei der Weiterentwicklung der Eisenbahn vor eineinhalb Jahrzehnten von konzeptionellen Ansätzen verabschiedet und das Management von selektiven Ansprüchen zur Maxime ihres Handelns erhoben hat. Die konzeptionellen Ansätze der Bahn 2000 und der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) wurden in den Achtzigerjahren entwickelt und werden in unseren Tagen mehr oder weniger vollendet. 2020 wird der Ceneribasistunnel eröffnet, und 2025 wird auch die Reise von Bern nach Lausanne in weniger als einer Stunde möglich sein. An die Stelle des grossen Ziels, das ihnen zugrunde lag, Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu verlagern, sind die prosaische ‹Engpassbeseitigung› getreten und die bescheidene Ambition, den heutigen Marktanteil der Bahn von rund zwanzig Prozent im Personenverkehr und etwas mehr als dreissig Prozent im Güterverkehr zu halten.
Verkehrsentwicklung nach innen
Natürlich leben wir nicht mehr in jener Zeit, in der die Bahn 2000 und die Neat entworfen wurden. Und natürlich gehört die Zukunft nicht einem Gegeneinander, sondern einem Miteinander von Schiene und Strasse. Die Digitalisierung ermöglicht einfache Transportketten, in denen beide Verkehrsarten ihre Stärken ausspielen können – die Schiene das Bündeln des Verkehrs und die Strasse seine individuelle Gestaltung. Zudem hat die Bevölkerung der Schweiz in den letzten dreissig Jahren um 1,6 Millionen Menschen oder über ein Fünftel zugenommen. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich drängender denn je die Frage, welche Rolle die Eisenbahn in der Schweiz künftig spielen soll, zumal sie inzwischen mit gleich viel Investitionsgeldern pro Jahr ausgestattet ist wie die Strasse.
Kann die Schiene ihre Kernkompetenz, das Bündeln von Verkehr, den Transport von Massen, vollumfänglich ausspielen, betreibt sie flächensparende Verkehrsentwicklung nach innen – gleichsam das Pendant der Siedlungsentwicklung nach innen. Jenes Credos der Raumplanung in der Schweiz, die die grassierende Zersiedelung eindämmen soll. Verkehrsentwicklung nach innen. Siedlungsentwicklung nach innen. Lässt man sich diese Begriffe auf der Zunge zergehen, ist es offensichtlich: Die Eisenbahn hat das Zeug dazu, zu einem Motor für eine kluge bauliche Verdichtung zu werden. Natürlich nicht, indem unter dem Vorwand eines imaginären internationalen Verkehrs teure Tunnel um kleine Weiler herum gebohrt werden. Sondern indem die Netz- und die Linienplanung der Eisenbahn der Siedlungsentwicklung in den letzten dreissig Jahren besser Rechnung tragen und jene in den kommenden dreissig Jahren so weit wie möglich steuern.
Was könnte das heissen? Die Grundsatzfragen lauten nicht, ob da der eine und dort der andere Tunnel gebaut werden soll. Sondern: Welche Regionen und Orte soll die Eisenbahn in welcher zeitlichen Qualität miteinander verbinden? Wie gross sollen die Einzugsgebiete ihrer Haltepunkte sein? Soll die Eisenbahn für möglichst viele Menschen nicht nur Massenverkehrsmittel, sondern auch Erschliessungsgefäss auf der letzten Meile sein? Und: Wie lassen sich tangentiale Bahnverbindungen an den Zentren der grossen und mittleren Städte vorbei so gestalten, dass sie dem individuellen Verkehrsmittel zeitlich einigermassen Paroli bieten können?
Bündeln oder dehnen
Um Antworten auf diese Fragen zu skizzieren, bleiben wir in der Region Bern, wenden uns aber einer anderen Achse zu: jener von Biel nach Thun. Sie besteht heute aus zwei Linien, die vom Bahnhof Bern ausgehen. Wer von der Bieler Hälfte der Achse, beispielsweise von Lyss, an einen Ort auf der Thuner Hälfte reisen will, zum Beispiel nach Münsingen, muss einen zeitraubenden Umweg über den Bahnhof Bern machen und dort umsteigen. Alternative dazu können Direktverbindungen sein, die die Stadt Bern nicht im herkömmlichen Zentrum bedienen, sondern in ihrem Osten, im Wankdorf, einem deklarierten kantonalen Entwicklungsschwerpunkt. Wenn Bern-Wankdorf auch zu einem Haltepunkt für Intercity- und Interregiozüge wird, entsteht ein weiterer Bahnknoten im Städtenetz Schweiz. Das wiederum ist ein Steilpass für eine noch dezidiertere bauliche Entwicklung dieses Stadtrandgebiets zu einem deklarierten zweiten Zentrum der Stadtregion Bern.
Das Beispiel der Achse Biel–Bern–Thun illustriert die Möglichkeiten, wie die Eisenbahn dazu beitragen kann, Agglomerationsräume zu strukturieren. Entweder konzentriert sie sich darauf, den Verkehr zu bündeln und erreicht dafür eine verhältnismässig hohe Reisegeschwindigkeit zwischen dicht bebauten Orten. Sie bedient nur noch Haltepunkte mit einem Einzugsgebiet von 5000 oder mehr Personen: Biel, Lyss, Münchenbuchsee, Zollikofen, Bern, Ostermundigen, Gümligen, Münsingen und Thun. Die Erschliessung von Brügg, Studen, Busswil, Suberg-Grossaffoltern, Schüpfen, Rubigen, Wichtrach, Kiesen und Uttigen überlässt sie anderen Verkehrsmitteln. Dafür reicht eine Zugkategorie aus. Der unmittelbare Bezug dieser Option zur Raumentwicklung ist, dass sie in der Siedlungsentwicklung zu stärker akzentuierten Schwerpunkten führt. Transformationsgebiete in Gehdistanz zu den Haltepunkten sind dann noch konsequenter baulich zu verdichten, und es sind Zubringersysteme für die nicht mehr direkt von der Bahn erschlossenen Orte zu evaluieren.
Oder aber die Bahn bedient weiterhin alle Haltepunkte. Auch Brügg, Studen, Busswil, Suberg-Grossaffoltern, Schüpfen, Rubigen, Wichtrach, Kiesen und Uttigen. Dieser Ansatz bedingt weiterhin mindestens zwei Zugkategorien, wenn auch die Reisezeit zwischen Biel, Bern und Thun attraktiv bleiben soll. Räumlich und siedlungsmässig muss diese Option zu einer überproportionalen baulichen Entwicklung in den kleineren Orten führen. Dieses Konzept führt auf Dauer dazu, dass sich die Einzugsgebiete der Haltepunkte grössenmässig einander annähern.
Zusammenhalt dank Zukunftsbild
Wie aber lassen sich solche konzeptionelle Ideen qualifiziert gegeneinander abwägen? Geeignetes Instrument dafür ist eine Ideenkonkurrenz, in deren Rahmen analog einer Testplanung bei Arealentwicklungen verschiedene Entwürfe für die Weiterentwicklung des schweizerischen Eisenbahnnetzes hervorgebracht und gegeneinander abgewogen werden. Entwürfe, die dann idealerweise in ein fachlich konsolidiertes und politisch abgestütztes Zukunftsbild münden. Ein Zukunftsbild, das Entscheidungsgrundlage oder mindestens Orientierungsrahmen für politische Entscheide zugunsten von konkreten Ausbauten ist.
Bernd Scholl, langjähriger Professor für Raumentwicklung an der ETH Zürich und engagierter Verfechter solcher Planungsansätze, beschreibt den Mehrwert gegenüber einem klassischen Vorgehen, wie es in der offiziellen Eisenbahnplanung der Schweiz praktiziert wird, wie folgt: «Die übliche Methode, über Gutachten und isolierte, einzelne Vorschläge zu diskutieren, reicht nicht aus – weil damit das Lösungsspektrum zu früh eingeengt oder gar nicht sichtbar wird. Erst wenn simultan mehrere Ansätze auf den Tisch kommen und in einem geordneten Prozess geprüft und ausgewertet werden, entsteht ein solides Fundament für weiterführende Arbeiten.»
Bleibt die Frage, wer die Initiative für eine Ideenkonkurrenz zur Weiterentwicklung des schweizerischen Eisenbahnnetzes ergreift. Und damit für ein Zukunftsbild, das aufzeigt, wie die Eisenbahn im Sinne einer Verkehrsverdichtung nach innen zu einem grösseren Hebel für die Siedlungsentwicklung nach innen werden kann. Initialzündungen können von allen Staatsebenen ausgehen, vom Bund, von den Kantonen, von den Städten und Gemeinden. Idealerweise spannen sie als Trägerschaft zusammen. So kann die Ideenkonkurrenz auch zu einem Projekt werden, das dem nationalen Zusammenhalt zuträglicher ist als die regionalpolitische Giesskanne, die das für sich in Anspruch nimmt. Zuträglicher, weil sie das Gesicht der Schweiz von morgen skizziert. Rosshäuserntunnel hin, Rosshäuserntunnel her: Die relevanten Fragen lauten, in welcher zeitlichen Qualität Bern, Neuenburg und die Orte unterwegs mit der Bahn bedient werden sollen, und welche Chancen das für die Siedlungsentwicklung nach innen bietet. Sie sind erst noch zu beantworten.
Paul Schneeberger (*1968) ist Historiker und war von 2001 bis Juli 2018 Inlandredaktor der NZZ. Seit August 2018 leitet er beim Schweizerischen Städteverband den Bereich Verkehrspolitik und Politmonitoring. In seinem neuen Buch skizziert er, wie die Bahn als Massenverkehrsmittel zum Rückgrat der Siedlungsentwicklung werden kann: ‹Ein Plan für die Bahn›, erschienen bei NZZ Libro, Zürich 2018, 144 Seiten, Fr. 32.— bei hochparterre-buecher.ch