Bereits Heute lässt sich erahnen, wie die Stadt Zürich sich bis übermorgen wandeln wird. Simone Brander führt durch Strassen und Plätze mit Vorbildcharakter für die Strategie ‹Stadtraum und Mobilität 2040›.
Wie die Stadt in 15 Jahren aussehen soll, möchte ich von der Stadträtin Simone Brander (SP) wissen. Sie allerdings, ganz Politikerin, will keine Traumstadt vom Reissbrett skizzieren. Stattdessen sagt sie: «Die Bevölkerung wird entscheiden, wie Zürich in Zukunft aussieht.» Aber es gibt durchaus einige Plätze, Strassen und sogar einen unterirdischen Leuchtturm, die bereits ahnen lassen, wie sich die Stadt entwickeln wird. Ich treffe Simone Brander zu einem winterlichen Stadtspaziergang. Die Minusgrade und der Schneefall machen es uns schwer, das Versprechen der lebenswerten, grünenden Stadt zu entdecken. Finden werden wir es trotzdem.
Die Strategie kurz erklärt
Die Strategie ‹Stadtraum und Mobilität 2040› skizziert den Weg zu einer klimaneutralen und lebenswerten Stadt Zürich. Sie ist eine Denk- und Planungsanleitung, die politische und fachliche Ziele zu einem integralen Zielbild zusammenführt und die Leitplanken für die Weiterentwicklung der Stadt definiert. Sie versammelt auch konkrete Vorschläge für die Gestaltung von Stadträumen und umreisst die Rolle und die Breite von Mobilitätsangeboten. Das Strategiepapier ist für alle Dienstabteilungen der Stadt Zürich behördenanweisend und dient den beauftragten Planungs- und Ingenieurbüros als kompakte Arbeitsgrundlage. Die Transformation wird in drei Entwicklungsphasen (heute, bis 2030, bis 2040) aufgeteilt und auf den Ebenen Quartier, Stadt und Region umgesetzt. Bei der Umsetzung werden die Hierarchie und die Gestaltung von Räumen sowie die Rolle von Mobilitätsangeboten in und zwischen diesen Räumen neu gedacht. Die Strategie definiert Planungsprinzipien, Massnahmen sowie Erfolgsmessung und Berichtswesen. Konkret: Strassen und Plätze sollen nicht nur der Fortbewegung dienen, sondern auch als Stadt- und Sozialräume für Aufenthalt und Begegnung genutzt werden.
Acht Schwerpunkte
–Priorisierung klimaneutraler und aktiver Mobilität
–Mehr Raum für das Quartierleben
–Ganzheitliche und identitätsstiftende Gestaltung
–Neuaufteilung des Strassenraums
–Verbesserung des Stadtraumangebots
–Stadt für und mit Menschen
–Förderung vernetzter und innovativer Mobilität
–Stärkung von Grün und Biodiversität
Sechs Leitsätze: In Zürichs Stadtraum ...
... erlebe ich die Vielfalt der Stadt und meines Quartiers.
... komme ich gut und umweltschonend voran.
... bin ich willkommen und kann mitwirken.
... profitiere ich von einem starken Zentrum und einem attraktiven Wirtschaftsstandort.
... kann ich aktiv sein oder Ruhe finden.
... erlebe ich Natur, Wasser und ein angenehmes Klima.
Vier Strassenraumtypen
–Verbindende Stadtachsen werden zu Treffpunkten und Orten der Versorgung. Sie bündeln und kanalisieren den MIV. Weitgehend auf Tempo 30 reduziert, vernetzen sie Fuss- und Veloverkehr, ÖV und Sharing-Angebote.
–Erschliessende Stadtachsen dienen der Orientierung und der Identitätsbildung. Im Fokus steht die Erschliessung der angrenzenden Wohngebiete, der ÖV-Verbindungen und der sozialen Infrastruktur. Weitgehend auf Tempo 30 reduziert.
–Quartierstrassen bieten ein gut erreichbares und vielfältiges Gewerbeangebot und Begegnungszonen. Ihr Stadtraum ist begrünt und entsiegelt, das Tempo auf 20 bis 30 reduziert. Quartierhubs vernetzen ÖV und Sharing-Angebote.
–Nachbarschaftsstrassen sind Orte des sozialen Austauschs mit begrünten und beschatteten Aufenthaltszonen und zusammenhängenden Grünflächen. Sie sind weitestgehend vom MIV befreit oder autofrei. Der Fuss- und Veloverkehr steht im Vordergrund, das Tempo ist auf 20 reduziert.
Infos zu bereits realisierten Beispielen, Videos zur Vision und zu den Mitwirkungsverfahren, vollständige Dokumente und Zusammenfassungen zur Strategie und zur Erfolgsmessung: stadt-zuerich.ch/stadtraum-mobilitaet
Auf der Sigi-Feigel-Terrasse
Im hellen Mantel wartet die Vorsteherin des Tiefbau- und Entsorgungsdepartements auf der Sigi-Feigel-Terrasse, wo die Sihl mit Sitzstufen zugänglich und erlebbar gemacht wurde. Bevor die Landschaftsarchitekten Krebs und Herde die Böschung von der Gessnerallee zum Flussraum hinunter öffneten, diente das Gebiet praktisch als Parkhauseinfahrt. Das Parkdeck über dem Fluss wurde 2004 abgerissen, seither parkieren Stadtbesucher im unterirdischen City Parking, und die Terrasse ist zu einem Aufenthaltsort direkt am Wasser geworden.
Dem Ausbau des Grün- und Blauraums steht die Reduktion des Autoverkehrs gegenüber: Bis 2040 soll die Zürcher Bevölkerung ihre Fahrten mit dem Auto um 30 Prozent reduzieren. Sie soll auf das E-Bike umsteigen, auf das gewöhnliche Velo oder mit dem ÖV und zu Fuss ans Ziel kommen. «Mit der Annahme des Klimaschutzziels Netto-Null im Mai 2022 hat die Bevölkerung uns einen Auftrag erteilt», sagt Brander. «Um klimaneutral zu werden, ist die Mobilität einer der grössten Hebel.»
An der Kasernenstrasse
Die Stadt Zürich räumt dem Velo Vorfahrt ein, und das ist wörtlich gemeint. Am gegenüberliegenden Sihlufer, auf der Kasernenstrasse, wurde 2024 ein neuer Velostreifen angelegt. Wo Velofahrerinnen bislang zwischen zwei Autospuren auf Grün warten mussten, gibt es nun eine ‹Protected Bike Lane›. Poller trennen den markierten Velostreifen auf der rechten Seite der Fahrbahn von der nunmehr einfachen Autospur. Die Velofahrer haben viel Platz – im Bereich der Bus- und Tramhaltestelle ganze 3,7 Meter – und sind vor ausscherenden Überholmanövern geschützt. Das ist keine Revolution, aber eine rasche und effiziente Lösung für mehr Sicherheit der Veloinfrastruktur. «Stadtplanung ist eine langfristige Angelegenheit. Deshalb braucht es auch Massnahmen, die schnell sichtbar werden», sagt Simone Brander. Die Stadt Zürich plant insgesamt 130 Kilometer Velovorzugsrouten, 4,5 Kilometer sind bereits Realität. In wenigen Jahren sollen etliche weitere Kilometer durch die Quartiere führen.
Im Stadttunnel
Die Velospur führt von der Kasernenstrasse zum neuen Stadttunnel unter dem Hauptbahnhof siehe Seite 6. Er befindet sich noch im Bau, doch Gesamtprojektleiter Nicolas Marz öffnet das Absperrgitter und lässt uns eintreten. «Cool», entfährt es Simone Brander, die nach längerer Zeit wieder einmal hier ist. Es ist eines der wichtigsten Projekte ihrer Amtszeit. Sieben Meter unter der Erde strahlen dezente Pendelleuchten an der Betondecke dieses Leuchtturms der Veloinfrastruktur. Die zwei Tunnelröhren sind ein Überbleibsel des ‹Expressstrassen-Y›, eines Verkehrsprojekts aus den 1960er-Jahren, das vorsah, drei Autobahnen mitten in der Stadt zu bündeln. 2021 sagten 74 Prozent der Zürcher Stimmbevölkerung Ja zur unterirdischen Veloverbindung, 2024 wurde das Y definitiv beerdigt und aus dem Nationalstrassennetz gestrichen.

Der Rohbau für den Tunnel wird nun zur Expressstrasse für Velos. Eine Röhre unter dem Bahnhof verbindet die Stadtkreise 4 und 5. Markierungen trennen den Gegenverkehr, minimale Erhebungen am Boden verstärken diese bei den Kreuzungspunkten zu den verschiedenen Zugängen. In der parallelen Röhre entstehen 1100 kostenlose Veloabstellplätze sowie eine grosszügige Fläche für Lastenräder. Wer auf den Zug muss, gelangt von der Velostation über die Passage Sihlquai direkt zu den Gleisen. Für Helm und Regenhose stehen Schliessfächer zur Verfügung. «Die Stadt ist keine Insel», sagt die Stadträtin. «Die Anbindung an die Regionen ist zentral.»
Ein paar hundert Meter westlich führt der Negrellisteg über das Gleisfeld siehe Seite 27. Was er für Fussgängerinnen ist, soll der Stadttunnel für Velofahrer werden. «Ausserdem hat es eine starke Symbolik, dass ein für Autos geplanter Tunnel für den Veloverkehr umgenutzt wird», sagt Brander. Auf der Nordseite führt eine Rampe zum Sihlquai, wo die Velofahrerinnen dereinst auf einem Zwei-Richtungs-Radweg Richtung Westen fahren können. Die zweite Rampe zur Konradstrasse nehmen wir.
Auf dem Röntgenplatz
Wir queren die Langstrasse und gehen geradewegs auf das Herz des Kreises 5 zu, den Röntgenplatz siehe Seite 13. Seit der Verkehrsberuhigung in den 1980er-Jahren hat sich der Platz zu einem lebendigen Treffpunkt entwickelt. Hier werden Feste gefeiert und Märkte veranstaltet. Ist es das, was der Stadträtin mit den Quartierblöcken vorschwebt? «Es ist auf jeden Fall ein Platz, den die Anwohner so nutzen, wie sie es sich wünschen», meint Simone Brander. Die Stadt der kurzen Wege ist hier bereits Realität. Die Bevölkerung findet alles, was sie braucht, in der Nachbarschaft: den Supermarkt, das Fachgeschäft, Restaurants und auch die sozialen Kontakte. «Man trifft sich», sagt Brander, die selbst in Wipkingen wohnt. «In Zeiten, in denen immer mehr Menschen sich einsam fühlen, muss man die Stadt auch als sozialen Raum begreifen.»
Die geplanten Quartierblöcke tragen diese Philosophie weiter. In vier Pilotgebieten soll der Durchgangsverkehr etwa durch Einbahnstrassen oder Sackgassen unterbunden und so mehr Raum für das Quartierleben geschaffen werden. «Die Quartierblöcke entstehen für das und mit dem Quartier», erklärt Brander. Jeder Block wird in öffentlichen Mitwirkungsveranstaltungen gemeinsam mit den Bewohnerinnen, Gewerbetreibenden und Interessenvertretern entwickelt. Geplant ist, dass die ersten Massnahmen in den beiden Pilotgebieten in Aussersihl rund um die Anwandstrasse und in Unterstrass rund um die Milchbuck- / Langmauerstrasse im Herbst 2025 umgesetzt werden, sofern keine Einsprachen eingehen.
An der Heinrichstrasse
Vom Röntgenplatz geht es zur letzten Station unseres Spaziergangs. Vor uns liegt die neu gestaltete Heinrichstrasse – ein Vorzeigebeispiel für die Zukunft des Zürcher Stadtraums siehe Foto. «Hier sieht man, wie wir die Stadt ganz im Sinne der Strategie ‹Stadtraum und Mobilität 2040› klima- und quartiergerecht umbauen: mit mehr Bäumen, entsiegelten Flächen und mehr Platz für Fuss- und Veloverkehr», so Brander. Denn der Stadtraum muss mit der wachsenden Bevölkerung Schritt halten, und das bedeutet, dass die Flächen neu verteilt werden müssen. Auf vielen Strassen nimmt der motorisierte Verkehr im Vergleich zum Fussverkehr, aber auch zur Begrünung doppelt so viel Fläche ein. Dieses Verhältnis will Zürich bis 2040 umkehren.

Auf der Heinrichstrasse ist das bereits geschehen. Die Oberflächen wurden nach den Grundsätzen der Schwammstadt entsiegelt, 48 zusätzliche Bäume wurden gepflanzt. Um deren Wurzeln herum speichert ein Baumsubstrat Regenwasser. Grün Stadt Zürich hat es eigens für die städtischen Extremstandorte entwickelt. Um Platz für die Wurzeln zu schaffen, werden Werkleitungen auch mal über- statt nebeneinander verlegt. «Ein Baum braucht unter der Erde etwa gleich viel Raum wie darüber», so Brander. Doch oberirdisch wie unterirdisch ist der Platz knapp. Ein zentrales Thema der Strategie ‹Stadtraum und Mobilität 2040›. Denn genau darum geht es: den Stadtraum so zu verteilen, dass Zürich mit dem Klima wachsen kann.
Simone Brander (47) ist SP-Mitglied. Seit 2022 steht sie als Stadträtin dem Tiefbau- und Entsorgungsdepartement der Stadt Zürich vor. Sie hat an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften studiert und danach viele Jahre beim Bundesamt für Energie gearbeitet.
Die zukunftsfähige Stadt
Zürich skizziert den Weg zu einer lebenswerten und klimaneutralen Stadt. Die Strategie ‹Stadtraum und Mobilität 2040› setzt auf Mitwirkung und Experimente, hat einen ganzheitlichen Ansatz und entstand in einem fachübergreifenden Entwicklungsprozess.
Das Hochparterre Themenheft kann hier bestellt oder bequem als E-Paper gelesen werden.
Diskussionsrunde und Stadtspaziergang
Nach einem Spaziergang durch das Zürcher Industriequartier diskutiert eine Expertinnenrunde unter der Moderation von Maarit Ströbele, Redaktorin Landschaft bei Hochparterre, über die Aufteilung des öffentlichen Raums in der Stadt.
Stadtspaziergang: Donnerstag, 5. Juni, 17.30 Uhr
Treffpunkt: Ecke Heinrichstrasse / Hardstrasse
Podiumsdiskussion: 19 Uhr, Architekturforum Zürich, Zollstrasse 115
Anmeldung: www.hochparterre.ch/veranstaltungen