Shibam im Wâdi Hadramaut Fotos: Ralph Feiner

Hommage an ein geschundenes Land

In Jemen ist Krieg. Tausende Leute müssen sterben. Hunderte historisch wertvolle Gebäude werden zerstört. Eine Erinnerung an ein grossartiges Land.

Verhungernde Kinder, bombardierte Stadtteile, Pick-ups mit bis an die Zähne bewaffneten Kämpfern. Zerstörungen, wohin man schaut. Zwar kennt der Jemen Stammeskonflikte seit Urzeiten. Die Krieger hielten sich aber an Regeln. So wurden die Stockwerke der Wohnbauten, in denen die Frauen wohnten, nicht beschossen. Seit 2015 ist das anders: Eine sunnitische Streitmacht unter Führung Saudi-Arabiens mit Verbindungen von den Golfstaaten bis nach Europa und Amerika bombardiert systematisch die Landesteile, die unter Kontrolle der angeblich vom Iran unterstützten, schiitischen Huthi-Rebellen sind. Im Süden ziehen die Al-Kaida und weitere islamistische Gruppierungen ihren Nutzen aus dem Konflikt. Das Resultat sind unermessliches Leid und Zerstörung.

Quartierplatz in der Stadt Kawkaban im Hochland. Die Stadt thront auf einem uneinnehmbaren Felsenplateau (1993).

Angesichts der zurzeit weltweit grössten humanitären Katastrophe mag es vermessen sein, an die wilde Schönheit dieses Landes zu denken und an seine faszinierende Architektur- und Städtebaugeschichte. Aufgrund meiner Biografie fühle ich mich jedoch dazu verpflichtet: Als junger Architekt lebte und arbeitete ich mehrere Jahre im Jemen. Und mir ist klar: Teil dieser Katastrophe ist der Verlust des Kulturerbes und der Identität für das Land und seiner Bewohner.

Sana'a mit dem Eingang zum Wâdi Saîlah (1994).

Gefährdete Turmbauten

Arabia Felix, glückliches Arabien, nannten die Römer den Jemen. Die archaischen sozialen Strukturen, die Relikte der Antike und der Urzeit, die auf erstaunliche Weise von Menschen gezähmten wilden Landschaften und die Vielfalt an lokalen Architekturen faszinieren und sind exemplarisch. Im Jemen sind Städte kaum vierzig Kilometer voneinander entfernt und bei aller Ähnlichkeit seit Hunderten von Jahren von lokaler Eigenart geprägt. Die Altstadt von Sana’a ist Unesco-Weltkulturerbe, ein Ensemble aus rund 6000 historischen, turmartigen Wohnbauten. Sie waren ein beliebtes Fotosujet für die Touristen, die das Land vor dem Arabischen Frühling zwar nicht massenweise, aber doch rege besucht haben.

Sana'a Bait Mutahar

Im Grundriss ist die Typologie dieser Turmbauten einfach und kommt vom Lehmbau: eine Erschliessungsschicht für das Treppenhaus und den Vorraum in der Mitte und jeweils eine Wohnschicht auf beiden Seiten der Treppe. Die Typologie ist bis ins 5. Jahrhundert vor Christus zurück nachgewiesen. Einflüsse von Besetzungen haben sie verändert. So führten die Ottomanen, die den Jemen von 1547 bis 1628 und von 1849 bis 1918 beherrschten, Bogen- und Kuppelbautechniken, gebrannte Lehmziegel sowie die Anlage des ‹Piano nobile› ein – das klassische Wohngeschoss, das in das Sofa (zentrales Wohnzimmer), den Harem (Zimmer der Frauen) und den Selâmlik (Raum der Männer) aufgeteilt ist. Die turmartige Bauweise in Sana’a ist, wie auch in anderen Städten im Jemen, über Jahrhunderte durch Aufstockungen entstanden. So datieren die reichsten und am aufwendigsten dekorierten Geschossfassaden aus der Zeit von 1630 bis 1750, als die ottomanische Herrschaft abgeschüttelt war und das Land dank des weltweiten Kaffeemonopols wirtschaftlich blühte.

Handwerker bei ihrer Arbeit.

Bomben, Granaten, Hungersnot und mangelnde medizinische Versorgung haben Tausenden Frauen, Männern und Kindern das Leben gekostet. Und die Granaten haben aus Teilen der Hauptstadt Trümmerfelder gemacht. Ihre Detonationen erschüttern die verbliebenen, mit Lehmmörtel gefugten Turmbauten – viele sind einsturzgefährdet. Doch eines Tages werden die Waffen schweigen. Wird es dann gelingen, das verbleibende, grossartige baukulturelle Erbe zu sichern und in die Zukunft weiterzutragen?

 

Bedrohte Regionalstädte

Nebst Sana’a erlitten und erleiden vor allem Sa’da, die Hochburg der Huthi, und Taizz an der südlichen Frontlinie schwere Beschädigungen. Schätzungen gehen davon aus, dass im Konfliktgebiet neunzig Prozent der urbanen Infrastrukturen wie Elektrizitätswerke oder Brücken und zehn Prozent der Bausubstanz zerstört sind – Wohnbauten und Denkmäler wie zum Beispiel der sabäische Tempel von Barakîsh aus dem 7. Jahrhundert vor Christus.

Hoffassade eines typischen Wohnhauses in der Stadt Zabid (1993).

Stark beeinträchtigt ist auch die Stadt Zabid im feuchtheissen Tiefland. Sie ist seit den Ursprüngen des Islams eine Universitätsstadt mit einer grossen Moschee aus der Zeit des Propheten. Schlecht ist auch der Zustand der historischen Küstenstädte am Roten Meer: Hodeida aufgrund der Zerstörungen durch den Krieg, Luhayya und Mokha – einst der wichtigste Kaffeeverschiffungshafen – aufgrund des generellen Verfalls.

Typisches Wohnzimmer in Zabid (1994)

Schliesslich die Wüstenstädte. Eindrücklichstes Beispiel ist Shibam, ursprünglich der zentrale Ort des Wâdi Hadramaut, eines in West-Ost-Richtung verlaufenden, langgezogenen Tals im Südjemen. Im Ursprungsgebiet von Weihrauch und Myrrhe gelegen ist die Stadt heute die einzige, die noch einen perfekt erhaltenen sabäischen Grundriss aufweist. Auf 320 mal 240 Meter – also 7,7 Hektar Fläche – stehen 433 Gebäude, darunter fünf Moscheen, verschiedene Märkte sowie ein Sultanspalast. In der Stadt wohnten ursprünglich rund 10 000 Menschen. Die umgebende Oase und ihr Bewässerungssystem mit vorgelagerten Staudämmen ermöglichten die Ernährung der Bevölkerung. Die Stadt ist ein Lehrstück für innere Verdichtung mit minimalem ökologischem Fussabdruck. Shibam ist ganz mit Adobe-Ziegeln aus vor Ort gewonnenem Lehm gebaut. Fast alle Gebäude weisen sechs bis acht Geschosse auf und sind bis zu 38 Meter hoch – es sind bautechnische Meisterleistungen. Wie aber sieht es hier heute aus? Wir wissen es nicht genau. Die Lage ist unübersichtlich. Das Wâdi Hadramaut und die Stadt sind derzeit für westliche Ausländer nicht zugänglich.

Shaharah

Als Folge des Krieges wirken sich auch die Flüchtlingsströme auf das faszinierende jemenitische Stadtsystem aus. Marib, das antike Saba, war bis 2014 ein verschlafenes Wüstenstädchen mit rund 10 000 Einwohnern. Weil Marib ausserhalb des Konfliktgebiets liegt, sind viele Jemeniten dorthin geflüchtet. Inzwischen soll Marib mehr als 1,5 Millionen Einwohner haben.

 

Zerrütteter Städtebau

Der Krieg hat auch den Städtebau, mit dem der Jemen auf die Moderne reagiert hat, erschüttert. Eine atemlose urbane Dynamik veränderte das Land und vor allem seine Hauptstadt Sana’a schon vor zwanzig Jahren. In den 1990er-Jahren nahm die Bevölkerung des Landes jährlich um fast vier Prozent zu; die Hauptstadt wuchs um zwölf Prozent und hatte somit alle sieben Jahre doppelt so viele Menschen zu verkraften. Schnell und ungeplant entstanden neue Quartiere. So auch die ‹Medina al-Leil›, übersetzt die ‹Stadt der Nacht›. Das Quartier wurde in kürzester Zeit an eine Bergflanke gebaut, immer bei Nacht, illegal auf einem von der Regierung verbotenen Terrain.

Sana'a Bab al Yaman (1994).

Im Zentrum dieser hektischen Entwicklung aber lag die Innenstadt von Sana’a. Aufgrund des von allen Seiten direkt auf sie zuführenden, radial-konzentrischen Strassensystems erhöhte sich mit dem forschen Wachstum die Bedeutung der Altstadt, was zu einem unglaublich hohen Veränderungsdruck führte. Überall dort, wo die Altstadtmauer durchbrochen wurde, verwandelte sich die Verbindung zum zentralen Hauptmarkt in kürzester Zeit in einen Souk, in eine Marktgasse. Diese Entwicklungen liefen immer gleich ab: In den ersten Tagen boten fahrende Händler den Passanten Waren an. Kurz darauf liessen die Besitzer der Turmbauten grosse Öffnungen für Läden in die Erdgeschosse ihrer Häuser schlagen. Nach kurzer Zeit war ein weiteres Wohnquartier der Altstadt in einen Souk verwandelt. Da es sich für gutbürgerliche Sana’ani nicht geziemte, in einem Markt zu wohnen, verliessen die Wohlhabenden diese Quartiere und vermieteten die Häuser an die arme Landbevölkerung. Die Besitzer vernachlässigten den Gebäudeunterhalt. Die Turmbauten begannen zu verfallen. Die nur wenige hundert Hektar grosse Altstadt drohte zu verschwinden.

Die internationale Gruppe von Beratern, in der ich arbeitete, empfahl darum der General Organization for the Preservation of Historic Cities of Yemen (GOPHCY), nicht in erster Linie Turmbauten zu restaurieren, sondern die Stadtmauern zu erhalten und neue Durchbrüche zu verhindern. Wir empfahlen ausserdem, die historischen Torvorplätze zu Verkehrsdrehscheiben aufzuwerten und wieder Quartiertore einzufügen, um die Ausbreitung der Souks in die Wohnquartiere zu bremsen. Die einzige Durchfahrt durch die Altstadt, das Trockenflussbett des Wâdi Saîlah, wurde als tiefliegende Strasse so gestaltet, dass sich dort kein Souk ausbreitete. Alles in allem konnte damit die Altstadt als Wohnquartier erhalten werden, und die Torplätze funktionierten als Drehscheiben – wenn auch chaotischer als von uns Experten vorgesehen. Die Bemühungen von GOPHCY, die Altstadt zu erhalten, wurden 1995 mit dem Aga Kahn Award for Architecture ausgezeichnet.

Dorf im Jabal Harash (1994).

Der Konflikt im Jemen hat nicht nur viele Menschen getötet und Gebäude zerstört. Er hat auch den so typischen, pragmatischen Städtebau zerrüttet. Was werden die Jemeniten davon in die Zeit tragen können, in der keine Bomben und Granaten mehr fallen?

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 3/2019 der Zeitschrift Hochparterre.

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Kommentare

Saddam Abu Asim 20.09.2019 17:51
Das ist ein grossartiger Artikel! Vielen Dank an den Autor! Ich bin jemenitischer Journalist, der in der Schweiz lebt. Ich kann Ihnen sagen, dass es weit mehr zerstörte Ruinen gibt, als in diesem Artikel beschrieben. Es werden auch Archäolopie Sammlungen gestohlen und an europäische Museen verkauft. Freundliche Grüsse Saddam
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