Grosse Kelle für Winterthur
Stadt und SBB müssten endlich den Bahnhof Winterthur ausbauen, fordert der ehemalige Kantonsrat Willy Germann. Drei Fachleute kommentieren seine Vorschläge – die Debatte ist damit eröffnet.
Der Winterthurer Hauptbahnhof platzt zu Spitzenzeiten aus den Nähten. Die SBB, die Stadt Winterthur und der Kanton Zürich steuern seine Entwicklung mit dem Masterplan Stadtraum Bahnhof von 2010, der ein Flickwerk vermeiden soll. Doch schon heute ist absehbar, dass die vorgesehenen hohen Investitionen die grössten Probleme des Bahnhofs und seiner Umgebung nicht lösen. Im Gegenteil: Der Masterplan verbaut die nötigen Möglichkeiten, um die Kapazität zu steigern und wird sich schon bald als gigantische Fehlplanung erweisen.
Das Notwendige
Spätestens mit der Eröffnung des Brüttener Tunnels zwischen Zürich und Winterthur im Jahr 2035 muss im knappen Stadtraum HB Winterthur weit mehr Verkehr als heute bewältigt werden:
– Für den Personen- und für den Güterverkehr braucht es mehr Gleise. Güterzüge warten in Töss oder auf dem neuen dritten Gleis nach Elgg schon heute bis zu dreissig Minuten auf einen Slot im HB Winterthur.
– Für mehr Sicherheit und fliessende Fussgängerströme braucht es breitere Perrons und Perronabgänge.
– Die wichtigere Unterführung Süd muss verbreitert werden, denn die neue Unterführung Nord reicht für die wachsenden Fussgängerströme nicht.
– Westlich einer verbreiterten Unterführung Süd braucht es Veloabstellplätze in vierstelliger Anzahl – bisher ein frommer Wunsch des grossen Gemeinderats.
– Die gefährliche Kombination aus Fussgängerströmen und Bussen auf dem Bahnhofplatz muss entmischt werden, indem auch dessen Untergrund nutzbar wird. Denn auch der Feinverteiler Bus braucht künftig mehr Verkehrsfläche.
– Bus und Velo müssen im Strassennetz der Innenstadt freiere Fahrt erhalten.
– Das Parkdeck über den Gleisen mit seiner Sogwirkung für Zupendler ist seit je ein verkehrliches Unding. Die wertvolle Lage soll sinnvolleren Nutzungen gehören.
Die Hintergründe
Die SBB und die Stadt Winterthur legen ihren Plänen seit vierzig Jahren tiefe Prognosen zugrunde. 2035 werden im HB Winterthur mehr Züge abfahren als heute im Wiener Hauptbahnhof. Trotzdem rechnen die SBB im Jahr 2050 mit bloss 180 000 Passagieren pro Tag. 240 000 Reisende nach der Eröffnung des Brüttener Tunnels dürften der Realität jedoch näher kommen. Würde aus klimapolitischen Gründen mehr Autoverkehr auf den ÖV verlagert als in den Richtplänen vorgesehen, müssten die Kapazitäten 2035 noch einmal massiv höher sein als zu Beginn der Masterplanung. Ein verstopftes Tor zur ganzen Ostschweiz ? SBB und ZVV möchten den HB Winterthur entlasten, indem S-Bahnen, die hier enden, in die Agglomeration weiterfahren. Doch wenn Passagiere nicht in den Zügen auf die Abfahrt warten können, brauchen sie mehr Warteraum im Bahnhof: breitere Perrons, ein grosses Shop-Ville.
Auch der umweltschonende Verkehr muss zur festeren Vorgabe für die Stadtgestaltung werden. In der harmoniesüchtigen Winterthurer Politik hatte sich die Verkehrsplanung oft gestalterischen Konzepten anzupassen. Sonst hätte man die Gleisquerung zwischen Bahnhofplatz und Kesselhaus mit Perronaufgängen versehen. Und in Fussdistanz zum HB hätte man eine Siedlungsentwicklung der kurzen Wege mit mehr Fussverkehr eingeschlagen, etwa beim Kesselhaus und beim Neuwiesenzentrum. Mancherorts erschwert die Denkmalpflege raumschonende Lösungen: Güterschuppen und Remisen verhindern es oft, Bahnhöfe zu multifunktionalen Dorf- oder Stadtzentren auszubauen. In Winterthur könnte eine pragmatische Denkmalpflege Hand dazu bieten, die Hülle des Aufnahmegebäudes zu erhalten, das Erdgeschoss aber teilweise als Perron zu nutzen. Die geschützte Remise ist Zeuge des Infrastrukturbaus im 19. Jahrhundert – ein Hochhaus direkt daneben wäre Zeuge sorgsamen Umgangs mit dem Raum im 21. Jahrhundert.
Der kantonale Richtplan verlangt, die Siedlungsentwicklung schwerpunktmässig auf den öffentlichen Verkehr auszurichten. Das geschieht in Winterthur zu wenig: Seine Ausbauten sind Brosamen angesichts der riesigen Bauvolumen an der Peripherie und im Einzugsgebiet. Nicht erstaunlich, ist der Anteil des automobilen Binnen- und Zupendlerverkehrs im Vergleich mit anderen Städten sehr hoch. Alle Verkehrsträger verdichten sich sternförmig Richtung Innenstadt, sodass der knappe Strassenraum dort übernutzt ist. Der Bus als Zubringer zur Bahn steht im Stau. Innerstädtische Tangenten zur Entlastung haben kaum noch Platz, am wenigsten für den Bus.
Die Möglichkeiten
Bleibt nur, mehr Verkehr zu vermeiden. Zum Beispiel durch eine massive Verdichtung im Raum HB, wo eine Stadt in der Stadt entstehen kann für Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkauf, ein autofreier Hotspot ohne Parkraum, ausser für den Nutz- und Gewerbeverkehr. Verkehr vermeiden bedingt auch die Abkehr vom Schubladendenken der Zonenplanung: Nutzungen mischen statt sie über weite Wege trennen. Höhenbeschränkungen und Bauvorschriften von Schattenwurf bis Ausnützungsziffern werden der Raumschonung und der Raumeffizienz nicht gerecht.
Urbanes Wohnen und Arbeiten neben und über Gleisen nähme Druck weg von erhaltenswerten, familienfreundlichen Quartieren. Von dieser Aufzonung im Stadtraum HB würde, da es sich um öffentlichen Boden handelt, zudem vor allem die öffentliche Hand profitieren und nicht privates Spekulantentum.
In den Köpfen von Politikerinnen aller Ebenen muss die Formel «höhere Ausnützung gleich mehr Verkehr» einer neuen Formel Platz machen: «höhere Ausnützung gleich Chance für weniger Verkehr, vor allem weniger motorisierten Individualverkehr, gleich Grünraumschonung gleich Klimaschonung». Weitergedacht hiesse das: Neben der ehemaligen Epa müsste auch ein inventarisiertes Salzhaus oder gar das Concordia-Gebäude weichen. Da müsste in Kauf genommen werden, dass die Sicht auf die Winterthurer Hügel eingeschränkt würde, weil höher gebaut würde. Da würden Parkplätze aufgehoben, Freiräume infrage gestellt oder anders definiert: Einhausungen mit Grün statt ein Gewirr von Masten und Drähten. Den Bewohnerinnen und Bewohnern müsste der Zusammenhang zwischen weiträumiger Grünraumerhaltung und Verdichtung an zentraler Lage aufgezeigt werden, die Politik wäre gefordert, einen neuen Qualitäts- und Urbanitätsbegriff zu entwickeln.
Zurück in die Gegenwart: Die kühnen Pläne der Stadt und der SBB zwingen Politik und Bevölkerung, sich mit unbequemen Fragen auseinanderzusetzen, denn allen Optionen haften Mängel an.
– Ein Tiefbahnhof ist die gestalterisch eleganteste Lösung. Er muss unter der Eulach durchgeführt werden, ähnlich der Durchmesserlinie im HB Zürich unter der Sihl und der Limmat. Das ist mit hohen Kosten verbunden. Intensiv genutzte Einhausungen über den Gleisen können die Finanzierung erleichtern.
– Ein Hochbahnhof ist städtebaulich problematisch und löst im Norden enorme Anpassungsbauten aus.
– Zwei Kopfgleise im Raum der ehemaligen Epa sind eine Scheinlösung. Besser das heutige Gleisfeld erweitern, indem man einen Teil der Rudolfstrasse und das heutige Perron 3 dazunimmt. Ein Gleis ist dem Güterverkehr ohne Perron vorbehalten. Das Parkdeck verhindert allerdings auch diese Lösung. Sein Baurecht kann am besten abgelöst werden, indem man es durch ein Hochhaus von hoher gestalterischer Qualität ersetzt.
Auf Bundesebene kümmert der Flaschenhals HB Winterthur niemanden. Was aber, wenn seine Kapazitätserweiterung nicht rechtzeitig ins Budget findet ? Dann bleibt nur ein Nebenknoten Grüze, wo vier Linien attraktiv vernetzt werden können. So entstehen ein Auffangknoten wie der Bahnhof Zürich-Hardbrücke und eine Nebenstadt in der Stadt, finanziert durch Aufzonungen. Doch befindet sich dort neben den Pünten, den Familiengärten, auch ein Unterwerk der SBB – und diese möchten es dem Vernehmen nach sanieren statt verlegen. Damit wäre eine Möglichkeit mehr verbaut für eine sinnvolle Kapazitätserweiterung. Nach dem Parkdeck und dem Masterplan Stadtraum Bahnhof würde das Flickwerk fortgesetzt.
* Willy Germann ( CVP ) befasste sich während mehr als dreissig Jahren als Winterthurer Gemeinderat und als Zürcher Kantonsrat mit Fragen des Raums und des Verkehrs.
Statements und Kommentar (gegenüber Hochparterre 5/2019 gekürzt)
Die Themen sind hochkomplex
«Im Artikel von Willy Germann scheinen die angesprochenen Themen vernünftig aufeinander abgestimmt. Bei näherer Betrachtung einzelner Ideen beginnt das futuristische Gesamtkonstrukt jedoch zu bröckeln. So erfordern beispielsweise Perronzugänge an den Perronenden aus den Unterführungen Zürcherstrasse und Wülflingerstrasse zuerst einmal breitere Perrons an deren Enden. Dafür müsste das Gleisfeld verbreitert und somit benachbarte Bauten abgebrochen werden.
Separate Gütergleise im HB Winterthur wären eine Platzverschwendung par excellence: Der Raum in einem Ausbauschritt nach dem Brüttener Tunnel wird doch dringend für breitere Perrons benötigt. Dass mehr Züge nicht zwingend mehr Raum in den Bahnhöfen brauchen, wird in vielen Kreisen nicht verstanden. Dabei bewirkt das Mehrangebot an Zügen, die dank dem Brüttener Tunnel dereinst verkehren können, zunächst einmal eine wesentliche Glättung der Spitzen pro ankommendem und abfahrendem Zug.
Die aufgegriffenen Themen sind allesamt hochkomplex. Die nächsten Planungsschritte mit der Entwicklungsplanung Bahnhof Winterthur sind aufgegleist und soeben gestartet.»
Jürg Zimmermann, SBB-Infrastrukturplaner
Das Konzept braucht Robustheit
«Die SBB, die Stadt Winterthur und der Kanton Zürich haben in der 2017 bis 2018 für den Gleisraum Stadtmitte Winterthur durchgeführten Testplanung erkannt, dass die Zukunft des Gleisraums eng mit der Entwicklungsstrategie des Bahnhofs verknüpft ist. Bis voraussichtlich 2021 entwickeln Stadt und SBB gemeinsam ein langfristiges Ausbaukonzept für den Bahnhof und sein Umfeld. Das Ziel ist eine abgestimmte Strategie zur Entwicklung im Zeitraum bis nach 2050.
Wachstumsprognosen sind wie alle Annahmen über die Zukunft eine unsichere Sache. Es ist denkbar, dass Bevölkerung und Verkehr, wie Willy Germann postuliert, noch schneller wachsen. Aber es kann auch wieder in die andere Richtung gehen. Deshalb ist es für uns wichtig, dass das Ausbaukonzept eine hohe Robustheit aufweist, damit später auf neue Entwicklungen reagiert werden kann.
Für die Stadt stehen für den künftigen Bahnhof folgende Ziele im Vordergrund: Der Bahnhof soll ein würdiges Eingangstor zur Stadt sein. Er braucht grosszügige Zugänge von allen Seiten, die auch als Quartierverbindungen dienen. Vom Zentrumsgebiet Neuhegi-Grüze her soll man ohne Umsteigen Richtung Zürich reisen können. Der Bahnhof der Zukunft soll ein Mobilitätshub für Bahn, Bus, Velo und Sharing-Dienstleistungen mit zukunftsweisenden Parking-Lösungen sein.»
Jens Andersen, Stadtbaumeister, Leiter Amt für Städtebau Winterthur
Kleben an alten Ideen
«Ein bunter Strauss an Ideen schlägt uns Willy Germann vor. Alles in allem aber sind es Vorschläge im Stil ‹ mehr vom Gleichen ›. Germann hat möglicherweise recht, wenn er feststellt, dass die Prognosen der ÖV-Entwicklung zu pessimistisch geschätzt werden. Wer aber eine klimaverträgliche Mobilität anstrebt, muss sie neu denken. Eine Siedlungsentwicklung nach innen ist nicht nur im Richtplan festgehalten, sie ist im Raumplanungsgesetz verankert und mehrfach vom Souverän bestätigt.
Das Umfeld des Bahnhofs Winterthur umzustechen, lohnt sich nicht. Östlich liegt die autofreie Altstadt, westlich das dichte Neuwiesenquartier. Beides sind vom Mobilitätsverhalten der Kunden, der Besucherinnen und der Bewohnerschaft bestens klimaverträgliche Strukturen. Mit der neuen Bahnquerung Nord reichen die Kapazitäten für die nächsten Jahrzehnte.
Carouge, Renens, Dreispitz, Wankdorf, Emmen: Dort geht die Post ab, liegen Brachen, Umstrukturierungsgebiete, neue Knoten der globalisierten Welt. In Winterthur sind das die Quartiere Töss und Grüze. In diesen Vorortsbahnhöfen muss die Verknüpfung zwischen Stadtbus, Regionallinie, S-Bahn und Interregio verbessert werden. An Orten wie diesen werden die grossen Investitionen nötig sein, wenn die Schweiz den Anschluss an die Welt nicht verlieren will.»
Marc Schneiter, Raumplaner und Verkehrsplaner sowie Inhaber und Geschäftsführer der Schneiter Verkehrsplanung AG in Glarus und Zürich
Kommentar: Chirurg, nicht Henker
«Vieles an Germanns Analyse ist richtig. Die Perrons sind zu schmal, die Unterführung Süd mit ihren Abgängen ist zu eng ( und unwirtlich ), das Parkhaus über den Gleisen ist ein Unding in vielfacher Hinsicht, die Situation am Bahnhofplatz mit der Busstation und den Gebäuden von Stadttor und Coop-City ist unbefriedigend.
In seinen Vorschlägen schiebt Germann wie ein DJ am Equalizer alle Regler in eine Extremposition: Die Prognosen über die Verkehrsentwicklung, die Bedürfnisse des Güterverkehrs, die Entflechtung der Verkehrsströme und die bauliche Verdichtung in Bahnhofsnähe rückt er bis zum Anschlag ins Plus. Die Denkmalpflege und die Gestaltung hingegen schiebt er ins Minus – wenn auch nicht ganz an den Anschlag.
So skizziert er eine Stadt mit einem extrem verdichteten Bahnhofsgebiet. Damit will Germann nicht nur die Bahnanlagen für die Zukunft rüsten, sondern auch gleich das Wachstum des Binnenverkehrs in Winterthur stoppen. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich. Dass die Planer dabei Winterthur gleich auf den Kopf stellen, ist unrealistisch. Es ist aber auch unnötig. Um es mit den Worten des Moskauer Chefarchitekten Wladimir Semjonow zu sagen – 1930, angesichts von Le Corbusiers Umbauplänen für Moskau: « Ein radikaler Eingriff ist unabdingbar, aber wenn man einen Chirurgen braucht, dann ruft man nicht nach dem Henker. »»
Werner Huber, Redaktor Hochparterre