Die Insel am Gleismeer

Der Lagerplatz wurde zum urbanen Brennpunkt Winterthurs – weil er auf die Bauten und Menschen setzte, die da waren. Interessant: Wer weniger investiert, verdient genauso viel.

Fotos: Ephraim Bieri
In Zusammenarbeit mit Stiftung Abendrot

Der Lagerplatz wurde zum urbanen Brennpunkt Winterthurs – weil er auf die Bauten und Menschen setzte, die da waren. Interessant: Wer weniger investiert, verdient genauso viel.

Zweimal im Jahr, immer wenn die Tage kürzer oder länger wurden, feierte das ‹Kraftfeld› die Sonnenwende. Im Sommer wurde der Lagerplatz vor dem Club zur städtischen Bühne. Die Betreiber zimmerten auch mal ein Piratenschiff, schliesslich musste die Szenerie zum wechselnden Motto passen. Die Sonnenanbeterinnen Winterthurs waren aufgerufen, sich passend zu verkleiden.

Längst ist die wilde Tradition verschwunden, ebenso der Wettstreit im Sandburgenbauen. Die Feste wurden weniger schräg, dafür umso häufiger. Und der Club, der 1996 als Zwischennutzung gestartet war, bekam Nachbarn: In dunkles Metall gehüllt und unter das Dach eines Schuppens gebaut zeigt das Kino Cameo alles ausser Blockbustern. Entlang der Gleise wirtet das Bistro ‹Les Wagons› in drei Bahnwagen aus den 1920er-Jahren. In einer betonierten Wasserschale spielen Kinder, die davor im Skills Park auf Trampolins hüpften und noch immer nicht müde sind. In Metalltonnen, Holzkisten und Wagen der stillgelegten Schmalspurbahn wachsen Birken.

Umringt von Bistro, Club, Kino und Freizeitanlage ist der Arealplatz das bunte Herz des Lagerplatzes.

Knapp an der Tabula rasa vorbei

«Wir hatten Schwein», sagt Hannes Moos, Architekt und Areal-Urgestein. Im ‹Portier›, wie das Café im alten Pförtnerhäuschen heisst, rollt er die kurvige Geschichte aus: Um 1990 hatte sich Sulzer aus Winterthur zurückgezogen. Nachdem mehrere Grossplanungen am Widerstand der Bevölkerung oder an fehlenden Investoren gescheitert waren, entwickelte der Industriekonzern das vierzig Hektar grosse Gebiet stückweise vom Bahnhof aus und siedelte im abgelegeneren Teil Zwischennutzungen an. So auch auf dem Lagerplatz mit seinen zwei Dutzend Hallen und Verwaltungsbauten von 1895 bis 1945. Es sind nüchterne Industriebauten mit Holz- oder Stahlfachwerken, Backsteinfassaden, flexibel nutzbaren Stützenrastern und riesigen Sprossenfenstern und Oberlichtern.

2006 waren knapp hundert Mieterinnen auf dem Areal. Dann beschlossen Sulzer und die Post – die zwischenzeitlich einen Teil des Areals erworben hatte – den Verkauf und machten eine Testplanung. Das städtebauliche Leitbild daraus orientierte sich zwar an der bestehenden Raumstruktur, erlaubte aber den Totalabriss. «Wir befürchteten eine Tabula rasa à la Neu-Oerlikon», erzählt Hannes Moos. «Darum gründeten wir den Arealverein und gingen zu Barbara Buser und Eric Honegger.» Buser, Honegger und ein paar Verbündete hatten einige Jahre zuvor angestossen, dass die Stiftung Abendrot und fünf weitere Investoren das Gundeldinger Feld hinter dem Basler Hauptbahnhof kauften und ihnen im Baurecht überliessen. Sie transformierten es zum bunten Gewerbeareal und setzten dabei auf die Bauten, die da waren. Genau das wollten auch die Winterthurer. Mit den Anregungen aus Basel erstellten sie ein Verkaufsdossier und machten sich auf Investorensuche. Abendrot war bald im Gespräch.

Drei Jahre später stand der Gestaltungsplan kurz vor der Festsetzung. Also musste es schnell gehen: Abendrot erklärte sich bereit, die Altlasten zu übernehmen. Sulzer und die Post verkauften die 4,6 Hektar in Bahnhofsnähe darum für nur 37 Millionen Franken. Buser und Honegger erhielten einen Entwicklungsauftrag und krempelten als Erstes den Gestaltungsplan um. Barbara Buser erinnert sich: «Stadtpräsident Ernst Wohlwend besuchte uns im Gundeli und fragte, was er für den Lagerplatz tun könne. Wir sagten: ‹Wenig Geschossfläche und Wohnungen erlauben.› In diese Richtung passten wir den Gestaltungsplan an. Ausserdem legten wir die Baufelder exakter an den Bestand, reduzierten die erlaubten Parkplätze von 800 auf 350 und fügten einen Artikel ein, der Umnutzungen erlaubt. Unser Ziel war von Anfang an, möglichst viel zu erhalten.»

Schwein gehabt heisst also: 2020 sind viele der damaligen Mieter noch auf dem Areal, mit langfristigen Verträgen und in sanierten Häusern und Hallen. Obwohl die Denkmalpflege einzig das Portiershaus formell schützte, stehen noch sämtliche Bauten. Der einzige Neubau mit den einzigen Wohnungen liegt ganz im Süden, hinter bloss tagsüber genutzten Hallen der Hochschulinstitute. Die Bewohner sind also weit weg von jenem Teil der viel beschworenen Urbanität, der auch mal lärmt und stinkt.

Im ständigen Dialog: die Projektsteuerung mit Barbara Buser (links), Eric Honegger und Tina Puffert (beide hinten) und der Arealverein mit Valérie Weibel (vorne), Peter Wehrli (Mitte) und Hannes Moos (rechts).

Projektentwicklung im Dialog

Trotzdem ist das Areal heute ein anderes: Aus knapp 100 sind mehr als 150 Mieterinnen geworden. Insgesamt hat Abendrot fast 140 Millionen Franken investiert und die Ausnützung mit Zwischenböden, An- und Aufbauten von 1,1 auf 1,5 erhöht. Zwei Plätze wurden autofrei, und die meisten Parkplätze sind nun in der Tiefgarage des Neubaus untergebracht. Es liegt weniger Müll herum, Bäume und Sitzmöglichkeiten wurden zahlreicher. Und obwohl mehrere Institute der Zürcher Hochschule fast ein Drittel der Fläche nutzen – darunter die Architektinnen und die Bauingenieure –, ist kein Campus entstanden. Nebst Club, Kino und Gastronomie gibt es Ateliers und Werkstätten für Kunst- und Kulturschaffende, Architektur- und Grafikbüros, ein Hostel, einen Velomech und eine Badmintonhalle sowie eine Theater- und Zirkusschule und eine offene Werkstatt zum Siebdrucken, Töpfern oder Schreinern.

Wie eigentlich alles auf dem Areal ist auch der Nutzungsmix ein Gemeinschaftswerk von Projektsteuerung und Arealverein. Anders als anfangs erträumt hat der Verein den Lagerplatz nämlich nicht im Baurecht übernommen. «Das Areal war zu gross für die Selbstverwaltung und mit den Altlasten auch zu riskant. Ausserdem war der Kauf für Abendrot ein echter Hosenlupf, und darum wollte sie die Fäden in der Hand behalten», erklärt Barbara Buser den Entscheid. An der Zukunftskonferenz kurz nach dem Kauf sorgte das Nein zur Selbstverwaltung freilich erst einmal für Ernüchterung. Dass die neue Besitzerin versprach, den Bestand zu nutzen und die Mieter miteinzubeziehen, glättete die Wogen. Und was hatte man schon für eine Wahl?

«Rückblickend ist es ein Glücksfall: Mitsprache ohne Verantwortung», sagt Peter Wehrli heute. Der Architekt gründete vor gut zehn Jahren sein Büro und ist seither im Arealverein aktiv. Verschiedene Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit Themen wie Freiraum, Mobilität oder Energie. Die Halle 142, ein offenes Stückgutlager, bespielt der Verein mit Flohmärkten, Foodtrucks oder Vermietungen. Sollen Häuser saniert werden und eine neue Nutzerin bekommen, darf er mitreden. Werden Flächen innerhalb eines Gebäudes frei, können die Mieterinnen neue Nutzer vorschlagen. Die Entscheidungen trifft allerdings die Projektsteuerung: Barbara Buser und Eric Honegger im Mandat, Abendrot-Projektleiterin Klara Kläusler, später Tina Puffert, und Verwalter Eric Allmendinger. Seit Beginn ist das vierköpfige Team praktisch jeden Donnerstag vor Ort, denn eine partizipative Entwicklung im voll vermieteten Areal braucht Präsenz und Kontinuität. Ist der erste Bau saniert, tut man gut daran, das gewonnene Wissen in die nächsten Projekte zu tragen. Alle sechs Wochen treffen sich die Projektsteuerung und der Arealverein zur Diskussion. So verschränken sich Top-down und Bottom-up.

Aufbessern statt ersetzen: Maximaler Substanzerhalt ist die Devise.

Ressourcenschonend und experimentierfreudig

Die Bauaufträge gehen bis auf wenige Ausnahmen direkt an eines der vielen Architekturbüros, die hier arbeiten. Wettbewerbskultur ade, Vetternwirtschaft olé? Solche Vorwürfe sieht Barbara Buser gelassen: «Es ist doch sinnvoll, mit den Menschen zu arbeiten, die vor Ort sind. Auch die Ausführung vergeben wir möglichst an Handwerksbetriebe, die hier angesiedelt sind.» Architekt Peter Wehrli findet das natürlich ebenfalls gut: «Ideenkonkurrenz gibt es zwar keine, aber man baut für sich und beobachtet von den Kollegen. Da gibt man sich doppelt Mühe.» Die Architekturqualität ist breit gefächert und reicht von der belanglosen Fassadensanierung in Wellblech bis zum Erweiterungsbau 181 am Gleisfeld von Kilga Popp. Die gewächshausartige, üppig bepflanzte Raumschicht erhielt 2014 Hochparterres Hasen in Gold.

Ungeachtet ihrer Verfasser haben die Projekte eine gemeinsame Handschrift: jene von Abendrot, Barbara Buser und Eric Honegger. Ihre Gedanken zur Nachhaltigkeit gossen sie in eine Vereinbarung. Deren Kern bilden ökologische und rezyklierte Materialien sowie alte, wiederverwendete Bauteile. Bricolage statt Bestellung. Peter Wehrli, der die Halle 118 umbaute, sagt: «Anfangs dachte ich, die spinnen, die Ökos. Doch mit der Zeit habe ich verstanden, worum es ihnen geht. Heute denke ich selbst weniger über den passenden Wasserhahn und mehr über Ressourcen nach.»

Auf den Kopfbau der Halle 118 setzt das Baubüro von Buser und Honegger derzeit drei Gewerbegeschosse und treibt das ressourcenschonende Bauen dabei auf die Spitze: Nebst ‹materiali poveri› wie Holz, Stroh und Lehm besteht der Bau zu fast sechzig Prozent aus wiederverwendeten Stahlträgern, Fassadenblechen, Bodenplatten, Lavabos et cetera. Um passende Bauteile in Abbruchliegenschaften zu finden, auszubauen und einzulagern, nahm Abendrot schon weit vor der Baueingabe einiges Geld in die Hand. Für Experimente ist die mittlerweile etablierte Pensionskasse offenbar noch nicht zu alt.

Lang lebe der Inselurbanismus

Mag der Lagerplatz punkto grauer Energie ein Primus sein, so ist im Betrieb noch Luft nach oben: Fernwärme und Öko- statt Atomstrom sind gut. Weniger als zwanzig Prozent Eigenversorgung beim Strom sind freilich kein Weltrekord. Nicht nur in dieser Hinsicht ist ein Vergleich mit der benachbarten Lokstadt interessant. Unter diesem Namen transformiert Implenia in den nächsten Jahren rund zwölf Hektar zum «new urban way of living» mit 2000-Watt-Zertifikat. Auf der Fläche, die gut doppelt so gross ist wie der Lagerplatz, bleibt dabei wenig stehen. Zwei denkmalgeschützte Hallen werden zu einem Gewerbezentrum mit Hotel, Markthalle, Sport- und Gesundheitsangeboten. Hinter geschützten Bestandesfassaden entstehen schicke, nach alten Lokomotiven benannte Stadthäuser. Die drei Hochhäuser und die weiteren Neubauten tragen Namen wie ‹Bigboy›, ‹Rocket› oder ‹Tigerli›. Sie werden vor allem Büroflächen und 750 Wohnungen enthalten, gebaut von renommierten Architekturbüros, ausgewählt in professionell durchgeführten Projektwettbewerben. Insgesamt werden hier 650 Millionen Franken investiert.

Auf dem Lagerplatz verfolgt Abendrot eine Kraut-und-Rüben-Strategie. Sie reicht von aufwendigen Umbauten, die sämtliche Standards der Hochschulinstitute erfüllen, bis zu minimal sanierten Flächen für Kreative und für stadtwirksame Akteure wie den Club, das Kino oder die Zirkusschule – allesamt Vereine mit viel Herzblut und wenig Geld. Mit völlig unterschiedlichen Mietzinsen erreicht die Stiftung seit dem ersten Tag des Arealkaufs eine Jahresnettorendite von etwa 4,5 Prozent. Neubaugebiete wie die Lokstadt, die Implenia praktisch zur gleichen Zeit kaufte, werfen dagegen lange Zeit wenig bis nichts ab und landen dann – wenn viel mehr Geld verbaut ist, oft mit Fremdkapital gehebelt – bei einer ähnlichen Rendite. Und während dort oft generische Wohn- und Büroflächen entstehen, baute Abendrot auf dem Lagerplatz kaum ein Gebäude um, ohne die zukünftige Mieterin zu kennen. Allerdings, und das ist keine Nebensache, wäre die Umnutzung der riesigen Hallen der Lokstadt weit schwieriger gewesen. Wer weiss: Vielleicht hätte das zu wirklich einzigartiger Architektur geführt?

Die Welt nun in die guten Alternativen und die bösen Konventionellen zu teilen, wäre trotzdem zu einfach. Gewiss sind mehr als neunzig Prozent Neubaufläche zu viel, wenn man ein geschichtsträchtiges Industrieareal transformiert. Fraglos könnten grosse Projektentwickler lernen, das Potenzial bestehender Bauten und Menschen zu nutzen, anstatt das Feld zu pflügen und lebendige Stadt aus dem Nichts planen zu wollen. Doch letztlich sind beide Areale Inseln im Meer der Stadt mit verschiedenem Nutzen. Viele Menschen wünschen sich genau jene zentral gelegenen, komfortablen Neubauwohnungen und Büroflächen, wie sie in der Lokstadt entstehen.

Vielleicht birgt der Vergleich also eine Lehre für den viel gescholtenen Inselurbanismus: Mögen die einen ihre ruhigen Wohnungen finden und die anderen ihre Ateliers und einen Nachbarn, der auch mal ein Piratenschiff zimmert. Die offene Stadt ist erfolgreich, wenn die einen die anderen dereinst besuchen und sie gemeinsam quartierstolze Sulzer werden. On verra.

Erdgeschossnutzungen Lagerplatz: A urbaner Platz, B Arealplatz, C offene Halle mit Kranbahn, D Quartierplatz – Hellstblau: Bildung, Hellblau: Einkaufen/Gastro, Blau: Kultur/Sport/Freizeit, Dunkelblau: Ateliers/Büros/Studios, Dunkelstblau: Gewerbe

Dieser Artikel ist Teil des Themenhefts ‹Investment und Gemeinsinn›, das Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Stiftung Abendrot publizierte. Es lässt sich im Webshop bestellen oder am Bildschirm lesen.

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