Agenda Raum Schweiz 2040: Die Schweiz von Morgen ist Suburbia. Planen wir sie mit den Menschen, die dort leben.

Coming soon: Neues öffentliches Leben in Suburbia

Agenda Raum Schweiz 2040 – damit führt Hochparterre den Diskurs für ein neues Raumkonzept Schweiz. Heute: Die Schweiz von Morgen ist Suburbia. Planen wir sie mit den Menschen, die dort leben.

Schlieren, Bussigny oder Mendrisio: Die Pandemie ist endlich vorüber, die Menschen begegnen sich wieder ohne Maske, die Abstandsmarkierungen in den Geschäften und auf den Trottoirs sind verschwunden. Und doch hat sich der Alltag im Ort verändert: Viele Menschen sind nach der Pandemie nicht mehr Vollzeit in ihre Büros zurückgekehrt. Sie haben das flexible Arbeiten schätzen gelernt. Nicht nur im Homeoffice, sondern auch im neuen Co-Working-Space, den die Gemeinde in zwei Geschossen eines Gewerbegebäudes am Ortsausgang eingerichtet hat. Verschiedene Organisationen nutzen das Haus mit: Pro Senectute, Elternberatung, die Jugendarbeit und ihr Start-up «Generation 2.0, Medienberatung für Senior*innen». In der ehemaligen Montagehalle finden abwechselnd Kurse und Veranstaltungen statt: eine Reparaturwerkstatt, Line Dance for Beginners oder die Sportartikelbörse.

Seit dem Homeoffice verbringen viele mehr Zeit im Quartier, grillieren in den Siedlungsfreiräumen, gehen tagsüber mit dem Hund auf den Quartierstrassen Gassi und treffen sich beim Hofladen. So lernen sich Menschen kennen, die seit Jahren in der gleichen Nachbarschaft wohnen. Weil sie zu Fuss unterwegs sind und nicht mehr auf dem Heimweg am Grossverteiler vorbeifahren, schätzen sie den neuen Wochenmarkt auf dem Bahnhofplatz. Am Samstagvormittag gibt es dort Gemüse von zwei Bauern aus dem Umland, Eier, Milchprodukte und selbstgemachten Hummus. Manchmal reicht es auch noch für einen Espresso vom Kaffeemobil. Bei einem solchen Vormittagsschwatz ist die Idee des Tischtennis-Turniers entstanden, für das am kommenden Sonntag drei Quartierstrassen verkehrsfrei gehalten werden.

Das Ende des Spotts
Seit sich die Städte ab Mitte der Neunzigerjahre wieder zum begehrten Wohnumfeld für Menschen der Mittelklasse entwickelten, wurde der suburbane Raum zum Fussabtreter der urban orientierten Planungs- und Architekturcommunity: Suburbia war da, wo sich die Kleinfamilie je nach Portemonnaie im Einfamilienhaus oder in der Wohnsiedlung breit machte, ausgerüstet mit einem, im günstigen Fall zwei Autos, um das Glück im privaten Winkel zu suchen. Der suburbanisierte Raum wucherte kaum gesteuert zu einer Mixtur von Einfamilienhausgebieten, Grosswohnsiedlungen, Verkehrsachsen, Infrastruktur- und Gewerbearealen, die sich den Ka-tegorien von Stadt und Land entzieht. Das öffentliche Leben verschob sich aus den alten Ortskernen in Einkaufszentren, Fitnessstudios und Freibäder. Urbane akademische Milieus identifizierten «die Agglo» als Hort kleinbürgerlich traditionalistischer Werte und restriktiver Alltagspraktiken. Die Basler Web-Designerin, der Zürcher Landschaftsarchitekt und die doppelt berufstätige Mittelstandsfamilie in Lausanne nahmen hohe Mietpreise in Kauf, um an den Versprechungen von Diversität, Dynamik und kurzen Wegen teilzuhaben; Werte, die zwangsläufig an die Stadt gekoppelt zu sein schienen.

Dennoch: Megatrends wie das Bevölkerungswachstum und der (trotz gegenläufiger Appelle) zunehmende Wohnraumverbrauch, die mit fortschreitender Digitalisierung möglich werdende (Wieder)annäherung von Wohnen und Arbeiten und die Preissteigerung von Wohnraum in den Innenstädten erhöhen den Wachstumsdruck auf den suburbanen Siedlungsraum. Das Raumkonzept Schweiz formulierte bereits 2012 als Teilstrategie, der suburbane Raum sei aufzuwerten, einzugren-zen und zu verdichten, seine Attraktivität für Wohnen, Detailhandel und Dienstleistungen zu erhöhen.

Nun hat die Pandemie dieser Dynamik einen zusätzlichen Schub verliehen: Suburbia wird attraktiver und zwar sprunghaft. Der wiederentdeckte Wert von Frei- und Naherholungsräumen, die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum und der Rückenwind für regionales Wirtschaften spielen der Zugkraft auf Städterinnen in die Hand. Agglomerationsbewohner, die praktische Erfahrungen mit dem Homeoffice machten, entdeckten die Vorzüge des sozialen Nahraums, Pendelzeiten wurden frei für andere Aktivitäten. Es ist ein Momentum entstanden für das Aufkeimen neuen öffentlichen Lebens in Suburbia.

Das öffentliche Leben kehrt zurück
Der wichtigste Vorzug von Suburbia gegenüber der Stadt ist der Freiraum. Das ist nicht neu, hat aber mit der Pandemie-Erfahrung einen neuen Resonanzraum gewonnen. Gärten und Aussenräume von Wohnsiedlungen, die Quartierstrasse ohne Durchgangsverkehr, Schleichwege, Abstandsgrün und Garagenvorplätze, der Schulhausplatz, das Fussballfeld, die letzte grüne Wiese im Ort, der Waldrand, die Lichtung, der Bach und das Flussufer: Grüne Naherholungsräume liegen vor der Haustür, in Fuss- oder zumindest in Velodistanz, wenn auch zuweilen nur über eine Autobahnbrücke, eine öde Gewerbezone oder durch die Bahnunterführung erreichbar. In Suburbia sind diese Räume nicht überfüllt, im Gegenteil: Aus der Perspektive der dichten Stadt wirken sie unternutzt. Während der Pandemie, als organisierte Freizeitanlässe wegfielen, wurden sie neu entdeckt und informell belebt. Diese Spuren zivilgesellschaftlichen Engagements sollten nun aufgenommen werden. Werden die reich vorhandenen Zwischenräume gestaltet, gepflegt und ausgestattet mit Sitzgelegenheiten und Müllentsorgung, stecken in ihnen viele Möglichkeiten für Alltagsvergnügen, Identifikation und niederschwellige Begegnungen. Damit aus den Zwischenräumen nicht Parkplätze, sondern Angebote für das Zusammenleben werden, braucht es Initiativen vor Ort. Sei es aus der Nachbarschaft, einem Verein oder von der Gemeinde. Die öffentliche Hand hat den längsten Hebel. Sie sollte aufmerksam sein für das, was in den Zwischenräumen entsteht oder entstehen könnte, Initiativen aufgreifen, fördern und weiterentwickeln. Und das möglichst unkompliziert.

Engere Handlungsräume, wachsende Spielräume
Eine der zentralen Losungen des Raumkonzepts 2012 lautete: «Denken, planen und umsetzen in Handlungsräumen». Wenn wachsende Teile der Schweizer Bevölkerung täglich zwischen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkaufen Gemeinde, Kantons- oder gar Landesgrenzen überqueren, bilden historisch gewachsene institutionelle Räume die funktionalen Verflechtungen nicht mehr adäquat ab. Wer in Pratteln wohnt, in Dornach arbeitet, auf dem Bauernmarkt in Mulhouse einkauft und in Basel am Rheinschwimmen teilnimmt, bewegt sich mühelos zwischen administrativen Räumen, sogar ohne besonders weite Wege zurückzulegen.

Planung, die in Handlungsräumen operiert, nimmt den gelebten Alltag der Menschen zum Ausgangspunkt. Aber dieser Alltag kann sich rasch verändern, wie wir seit dem Frühjahr 2020 erfahren haben. Damals ist die überwunden geglaubte Differenzierungsmacht administrativer Grenzen in unseren Alltag zurückgekehrt: Wir erinnern uns an die Bilder während des Lockdowns, als sich Familien und Liebespaare über hastig entlang der grünen Grenzen errichtete Zäune hinweg zuwinkten. Viele blieben zu Hause, kauften digital ein, wagten sich nicht in den öffentlichen Verkehr. Dafür aber in den öffentlichen Aussenraum und vor allem in die Naherholungsgebiete. Die Reichweite der physischen Bewegungs- und Handlungsräume wurde enger, das Lokale wieder wirkmächtiger für die Alltagsorganisation. Die für die Siedlungsentwicklung im 20. Jahrhundert paradigmatische Funktionstrennung zwischen Arbeiten, Wohnen und Freizeit - petrifiziert in den Einfamilienhausgebie-ten des suburbanen Raums - wurde über Monate hinweg aufgeweicht.

Ein Sensorium für kleinstmögliche Eingriffe entwickeln
Um in dynamischen Handlungsräumen zu planen, benötigt das Raumkonzept Schweiz solide Instrumente zur Raumbeobachtung. Und zwar nicht nur quantitative. So verlieren zum Beispiel die bislang für die Identifikation funktionaler Regionen verwendeten Pendelbewegungen in Zeiten des Homeoffice an Aussagekraft. Zahlen sind nicht nur träge, sie sind allein auch kaum brauchbar, um Bilder zu schaffen oder Prototypen zu scouten. Die Statistik sollte mit qualitativen Beobachtungen und Analysen ergänzt werden, die nahe am Geschehen auch kleine, kaum weltbewegende Veränderungen seismographisch registrieren. Sei es das Tischtennisturnier im Einfamilienhausquartier oder das Kaffeemobil auf dem Bahnhofplatz.

Das Raumkonzept muss schnell und flexibel auf solche Anzeichen reagieren. Unabhängig davon, welche Staatsebene angesprochen oder zuständig ist. Ganz besonders zarte Pflänzchen sind jene Aktionen, die von unten, aus einer engagierten Zivilbevölkerung kommen, die lustvoll auf neue Umstände reagieren. Um sie nicht zu verpassen, braucht es Beobachtungen auf der Mikroebene, die nahe bei den Menschen sind, Potenziale für Engagement abholen und Initiativen vernetzen. Die «Regionale 2025 – Projektschau Limmattal» , die einem Füllhorn von Projekten aus der Region eine Bühne gibt und der Bevölkerung das Wort, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes die Genossenschaft «Village Office» . Sie baut ein schweizweites Netzwerk von Co-Working-Spaces in suburbanen und ländlichen Gemeinden auf und vermittelt zwischen Gemeinden, Unternehmen, Immobilieneigentümerinnen und den Nutzerinnen. Ihre Vision: Lokale Netzwerke schaffen und damit einen Beitrag leisten zur Verringerung der privaten Mobilität. Das bringt die Idee der 15 Minuten-Stadt in die Agglomeration. Solches Engagement gibt dem Gemeinschaftlichen im suburbanen Raum mehr Boden und stärkt den sozialen Kitt, statt künstlich einen Stadt-Land-Graben heraufzubeschwören.

* Janine Kern und Christina Schumacher sind Dozentinnen für Architektursoziologie und Kommunikation am Institut Architektur der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz. Sie blicken aus ihrem Büro im 11. Geschoss auf zukunftsträchtige suburbane Lebensräume und erforschen sie mit ihren Studierenden auf Augenhöhe.

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