Die selbsternannte Velohauptstadt liegt an der Spitze bei der Velofreundlichkeit. Dieser Erfolg fusst auf dem Engagement vieler. Eine Erkundung mit fünf Stationen.
Unterhalb des Hirschengrabens beim Bahnhof Bern ist verkehrstechnisch einiges los. Strassen kreuzen, Tram linien schlängeln sich Richtung Bahnhof, Menschen wuseln herum. Und mittendrin das Berner Velovolk, eine bunte Mischung aus Profis und Amateurinnen, die diszipliniert an der eigenen Ampel auf Grün warten. Dabei kann es vorkommen, dass sich die auf beiden Seiten für Velos deutlich und grosszügig markierten Abbiegespuren ganz schön füllen. Doch dann folgt eine für alle ausreichende Phase, um Strassen und Schienen sicher zu queren – gerne auch mal nebeneinander. Auch den Hirschengraben selbst haben die Zweiräder in Beschlag genommen. Der baumbestandene Kiesplatz ist über und über damit verstellt. «Kann eine Stadt auch vom Velo überrollt werden?», fragt man sich. Doch davon später.
Vor zehn Jahren war die Querung am Hirschengraben eine der ersten markanten Erleichterungen für das Velo in Bern – heute trifft man auf eine Reihe davon. Allein im Stadtzentrum bieten vier Velostationen am Bahnhof rund 2000 Abstellplätze. Auf der Schwarztorstrasse gehört seit 2019 eine Autospur den Velos: Man radelt über 1,3 Kilometer in beiden Richtungen auf separaten Velostreifen, mit 2,5 Metern breit genug zum Überholen oder Neben einanderbummeln – die Öffnung von Einbahnstrassen für das Velo zählt zu den Berner Planungsgrundsätzen. An zahlreichen Kreuzungen hilft der indirekte Linksabbieger, eine Berner Spezialität: Ein Schild zeigt, wie es geht, die Spur dazu ist markiert, und häufig gibt ein eigenes Velolichtsignal Grün.
Als Gesellenstücke gelten jedoch die 2016 eröffneten Hauptrouten Köniz und Wankdorf. Letztere führt vom Bahnhof hinaus in den wachsenden Stadtteil, durchgehend entweder auf einem Streifen, wo möglich 2,5 Meter breit, auf einem baulich getrennten Weg oder auf der Spur des öffentlichen Verkehrs. Radelt die Velofahrerin mit zwanzig Kilometern pro Stunde, kommt sie dank der angepassten Ampelsteuerung in den Genuss einer grünen Welle. Beim Bollwerk unterquert sie eines der hoch gehängten Hauptstrassenschilder, die sonst über Auto spuren prangen. Es leuchtet rot und zeigt ein riesiges Velo. Danach saust sie über die Lorrainebrücke, wo ebenfalls eine aufgehobene Autospur Platz bietet für einen drei Meter breiten Streifen, der teils durch Pfosten abgetrennt ist. Stadteinwärts liegt der Streifen zum Teil allerdings mittig, sodass trotz allem eine rote Signalbahn nötig bleibt. Auf der Wankdorfroute läuft derzeit ein fünfjähriger Winterdienst Pilotbetrieb: Sie wird gleichzeitig wie die Autospuren von Glatteis und Schnee befreit, und auch die Frequenzen werden gemessen.
Die Gründerin der Velohauptstadt
In Bern fühlt man sich auf dem Velo willkommen, und diese Kultur hat eine Geschichte. Lange hatte die Veloszene Verbesserungen verlangt, doch erst mit Gemeinderätin Ursula Wyss, von 2012 bis 2020 Vorsteherin der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün, änderte sich etwas. «Das Wichtigste war wohl meine eigene Überzeugung und diejenige wichtiger Personen in der Verwaltung», erzählt Wyss, die zwei Alltagsvelos besitzt, das eine etwas verrostet. «Wir legten ein gemeinsames Ziel fest: Velo fahren für alle. So, dass auch Ungeübte gern unterwegs sind, und so, dass das Velofahren zur sozialen Tätigkeit wird, die den Strassenraum aktiviert.» Damit sei ein Querschnittsthema entstanden: Es ging nicht bloss um Asphalt und Infrastruktur, sondern auch darum, wie man eine Velokultur fördert – etwa mit speziellen Anlässen oder indem man Kinder berücksichtigt. «Dies bezog Verantwortliche aus der ganzen Verwaltung ein», blickt Wyss zurück. In Velostädten wie Kopenhagen oder in den Niederlanden holen sich die Berner Beteiligten bis heute die Motivation dafür, denn dort ist die Idee des sicheren, attraktiven Velofahrens längst Realität. «Wir sagten uns: Diese Städte sind kaum anders als Bern. Es gibt keinen Grund, warum es nicht auch hier gelingen sollte.» 2014 rief der Gemeinderat die ‹Velo-Offensive› aus: Die Stadtmütter und -väter liessen sich auf ihren Drahteseln ablichten, tauften Bern ‹Velohauptstadt› und verkündeten, den Anteil des Velos am gesamten Verkehr bis 2030 von stagnierenden elf auf zwanzig Prozent anzuheben.
Die Mechaniker des Masterplans
Das derzeit zentrale Instrument dieser Veloförderung ist der 2020 in Kraft gesetzte ‹Masterplan Veloinfrastruktur› siehe Seite 10. Zu seinen Schirmleuten zählt Michael Liebi, Fachexperte der Fachstelle Fuss und Veloverkehr, der seine Tochter gern im Cargobike chauffiert. Der Begriff ‹Offensive› habe die Verwaltung unter Druck gesetzt, sagt Liebi, im guten Sinn: «Hohe Ziele kommunizieren hilft.» Doch parallel müssen Resultate her. Darum zählt Liebi auch die kleinen Schritte: hier dreissig Zentimeter von der Autospur zum Velostreifen umverteilen, dort Schilder anbringen, Velostreifen rot einfärben, neue Streifen aufmalen – «markieren, markieren, markieren», meint Liebi. Solche Sofortmassnahmen arbeitet die Stadt systematisch ab. Die Finanzierung läuft über das Reglement zum Fuss- und Veloverkehr. Es sichert der Fachstelle jährlich 2,5 Millionen Franken für ihre Arbeit zu und definiert das Budget für kleine Projekte.
Dass die Richtung stimmt, belegt der Hauptpreis des ‹Prix Velo Infrastruktur›, den Pro Velo Schweiz der Stadt Bern im Jahr 2020 verliehen hat. Die Jury war des Lobes voll: «2,5 Meter breite Radstreifen und baulich abgetrennte Radwege sind plötzlich möglich geworden und wer den mit beeindruckendem Tempo umgesetzt – Standards, die aus den Niederlanden bekannt sind, nicht aber in der Schweiz.» Diese Neuerungen und die zunehmende Entflechtung des Verkehrs würden die sichere und attraktive Infrastruktur schweizweit auf ein neues Niveau heben. «Konsequent, hartnäckig, mutig: Der Berner Ansatz kann als Vorbild dienen.» Dabei kommt der Velohauptstadt ein besonderer Umstand entgegen: Es gibt kaum Kantonsstrassen, die meisten Strassen gehören ihr selbst – zumindest beim Planen hat sie oft freie Hand. Zwischen 2014 und 2020 hat der Veloverkehr um rund sechzig Prozent zugenommen, gerade auch an Werktagen. Und so vermutet die Jury des Prix Velo, dass Bern schon heute nahe am für 2030 angepeilten Veloanteil von zwanzig Prozent liegt. Übrigens: In Bern haben 57 Prozent der Haushalte kein Auto.
Von Beginn an hatte die Velo-Offensive partizipativen Charakter. Die Stadt pflegt Kommunikationsformate wie Mittagstische und Echoräume, mit denen Veloverbände, Parteien und Planungsexpertinnen die Lage und konkrete Vorhaben kommentieren. «Wir sind auf halbem Weg», so beurteilt es Michael Sutter, Präsident von Pro Velo Bern, der ein Specialized Sirrus fährt, ein leichtes Stadtvelo. Die Stadt habe viel erreicht in den letzten Jahren, «doch der Masterplan setzt sich nicht von allein um». Als Beispiel nennt er die Situation Inselplatz Murtenstrasse: «Der riesige Knoten soll mit Velomarkierungen zwar entschärft werden, aber die Standards des Masterplans werden nicht konsequent angewendet.» Generell müsse die Stadt bei grossen Kreuzungen noch handeln. Auf der Murtenstrasse kommt man in den Genuss eines breiten und baulich abgetrennten Velowegs, wie ihn die Stadt an strebt, «doch genau vor der Kreuzung Inselplatz kommt er wieder mit dem Bus und den rechtsabbiegenden Autos zusammen», stellt Michael Sutter fest. Diese Schwäche des Routennetzes bestehe weiterhin: «Plötzlich enden die guten Führungen, und es wird eng und gefährlich.» Bedeutende Massnahmen wie die Fuss und Velobrücke Länggasse–Breitenrain oder die Velostation Hirschengraben seien zudem sistiert. Sutters Fazit: «Es braucht den kontinuierlichen politischen Druck für gute Velolösungen.» Und dies noch eine Weile. Die Automobilisierung hinter liess schweizweit fast ausschliesslich autogerechte Stadtzentren. Während des Waldsterbenalarms der 1980er-Jahre bekam das Zweirad etwas Rückenwind in Form erster rudimentärer Velostreifen. Die 1990er und 2000er-Jahren gehörten dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Heute ist das Velo erwünscht, weil effizient, platzsparend, flexibel, bewegungsfördernd und klimaschützend – und sein Nachholbedarf enorm.
Die Planer und Gestalter der Velostadt
Pro-Velo-Präsident Michael Sutter wünscht sich faire Kompromisse, wenn es zwischen den bisweilen gegenläufigen Interessen von öffentlichem Verkehr und Velo abzuwägen gilt. Damit täglich beschäftigt ist Julian Baker, Verkehrsplaner im Büro Kontextplan, der im Alltag auf einem schwarzen Cresta-Stahlross auftaucht. Im Auftrag der Stadt konzipiert Baker die neue Vorrangroute vom Stadtzentrum nach Bümpliz. Noch existiert die Route erst in Planungsvarianten – eine der besten für Baker führt via Schwarztorstrasse, Schlossstrasse und Europaplatz an die Bernstrasse, wo eine neue Fuss und Velobrücke die Verbindung zum Bahnhöheweg wäre, der bis zum Bahnhof BümplizSüd reicht. Von dort soll es gemäss Masterplan später dann weiter bis hinaus nach Niederwangen gehen.
Während die erwähnte Schwarztorstrasse grösstenteils parat ist, treffen an der Schlossstrasse Fussgängerinnen, Trams und Velofahrende aufeinander, die zwischen Schienen balancieren und hinter Trams warten müssen. Zudem führt der hindernisfreie Einstieg zu hohen Halte stellenkanten, die dann für das Velo zum Hindernis werden. Julian Baker möchte den Veloweg deshalb hinter den Tramhäuschen durchführen, wo man sicherer durch kommt, aber abbremsen muss, um keine Wartenden an zufahren. Wo möglich, soll das Velo bei stark genutzten Haltestellen gemäss den Standards des Masterplans eine solche Umfahrung erhalten – wie sie an der Dübystrasse auf der Route nach Köniz bereits umgesetzt und an gut einem Dutzend weiterer Haltestellen geplant ist.
Räder und Füsse passen nicht zusammen, das zeigt die allgemeine Planungserfahrung. Das Velo braucht seinen eigenen Raum, und die Veloförderung soll nicht auf Kosten des Fussverkehrs gehen. «Bei wenig Autos und tiefen Geschwindigkeiten kann das Velo dagegen die Strasse mit dem Auto teilen», sagt Julian Baker. Bern experimentiert nun in den Quartieren Breitenrain und Länggasse mit ‹Velostrassen›: Quartierstrassen mit Tempo 30, auf denen das Velo Vorfahrt hat, auch von links. Dort ist man mit und ohne Motor fast gleich schnell unterwegs.
Lieber aufmalen als einbauen
Neben all dem Fördern und Planen stellt das Velo gestalterische Fragen. Damit beschäftigt sich zum Beispiel Simon Schöni, Geschäftsführer von Extra Landschaftsarchitekten. Ihm ist die gestalterisch sanfte Einbettung des Velos in den Stadtraum wichtig. Der Vielfahrer besitzt ein Brompton für die Stadt und ein Trek Émonda SL 6 für Landpartien. Ungern sieht er, wenn das Velo durch bauliche Massnahmen im Strassenraum hervorgehoben und abgesondert wird. Auf dem von Schöni gestalteten Europaplatz gibt es keine Trennungen. Er fand mit allen Beteiligten, auch mit Sehbehinderten, eine Lösung für die Koexistenz: Ob zu Fuss oder auf dem Velo, man zirkuliert frei, soll aber Rücksicht nehmen. Subtiler als bauliche Massnahmen sei Farbe, sagt Schöni, «abgesehen vom penetranten Signalrot». Er möchte möglichst wenige solcher gebauten Bremsen im Strassenraum, «die historische Stadtachsen auf die Stimmung einer Quartierstrasse runterdimmen – dann lieber Velostreifen aufmalen».
Auch der mit Rädern verstellte Hirschengraben ärgert Schöni. «Es braucht mehr geordnete Abstellmöglichkeiten, sowohl im öffentlichen Raum als auch bei Wohnhäusern.» Grössere Plätze etwa für Cargovelos dürften etwas kosten. Man müsse sich auch auf dem Velo daran gewöhnen, dass man nicht mehr einfach vor jedes Geschäft und jedes Haus fahren könne. «Je mehr Menschen Velo fahren, desto zivilisierter muss der Veloverkehr werden. Nur so lässt er sich gestalterisch integrieren.»
Das Velo darf erwachsen werden
In Bern ist das Velo in den vergangenen Jahren präsenter geworden. Dafür sorgt die Stadt auch mit passender Kommunikation. So zählen an drei Orten in der Innenstadt Messgeräte die Velos. Man fährt darüber und passiert Sekunden später eine Stele mit einem Bildschirm, auf dem die neue Zahl aufleuchtet, man selbst nun mitgezählt. Das motiviert. Auf der Lorrainebrücke zeigte die Stele im Jahr 2021 durchschnittlich 6000 Velos pro Tag, an Spitzentagen sogar über 10 000. An der Monbijoustrasse waren es 4500 Velos pro Tag – ein Vielfaches des Autoverkehrs, der dort eingeschränkt ist.
Trotzdem: «Können es auch zu viele Velos werden?», lautete doch die Frage am Anfang. Steht man in Bern bald im Velostau? Verkehrsplaner Julian Baker lacht. Auf den 2,5-MeterStreifen, die Bern einrichten wolle, sei viel Platz. «Hingegen sind ab 2024 Tachos bei schnellen E-Bikes Pflicht – was Bussen möglich macht.» Je sicherer die Infrastruktur werde und je mehr Menschen Velo führen, desto disziplinierter werde die Velokultur. Nicht nur die Menschen im Auto müssen sich also an mehr Velos gewöhnen und ihre Fahrweise anpassen – auch das Velo muss erwachsen werden.