Trichaptum abietinum (Violetter Lederporling) und Phlebia tremellosa (Gallertfleischiger Fältling) Fotos: Alois Iten
In Zusammenarbeit mit BSLA

Langeweile darf nicht sein

Monotone Landschaften müssen wieder vielfältiger werden. Die Wissenschaft ruft dazu auf, den Verlust der Biodiversität aufzuhalten. Das heisst anpacken – und abwarten.

Die Landschaft ist weniger abwechslungsreich als früher. Das trifft, wie Klaus C. Ewald und Gregor Klaus vor bald 20 Jahren im Buch ‹Die ausgewechselte Landschaft› feststellten, auf den grossen Massstab zu. Vielerorts wurde es monotoner, überwucherte Ecken und spontanes Grün verschwanden. Und auch im Kleinen gibt es mehr Langeweile: Betrachtet man die Landschaft mit dem Elektronenmikroskop, wurde sie eintöniger. Der Grund: Gibt es weniger Orte mit vielen verschiedenen Tier- und Pflanzenarten, ist auch die genetische Vielfalt der Natur geringer. Biodiversitätsverlust bedeutet Monotoniegewinn.

Weltweit – und die Schweiz ist da keine Ausnahme – nimmt die Biodiversität seit der Industrialisierung ab siehe Grafik ‹Global Living Planet Index›. Das ist ein Problem, denn eine möglichst grosse Abwechslung ist die Grundlage des Lebens auf der Erde. Die Existenz vieler verschiedener Arten von Pflanzen, Tieren und anderen Organismen macht die Natur robuster. Das dient auch den Menschen, die ohne natürliche Ressourcen nicht sein können. Ökosysteme leisten vieles. Sie versorgen uns mit frischer Luft, Kühle, Feuchtigkeit, Nahrung. Die Menschen als grosse Naturbestimmer der heutigen Zeit müssen das Heft in die Hand nehmen und dazu beitragen, dass die natürliche Vielfalt nicht weiter abnimmt.

Der Global Living Planet Index misst den Zustand der Biodiversität weltweit. Der Indikator basiert auf der Anzahl Wirbeltierarten. Indexwert: 100 = 1970. Quelle: WWF / ZSL 2020, Living Planet Report

Was ist Biodiversität?

Ursprünglich ein Begriff aus dem Naturschutz, bedeutete Biodiversität nicht viel mehr als biologische Vielfalt. Daraus entwickelte sich eine eigene Forschungsrichtung der Biologie. Im 18. Jahrhundert begann man mit dem Zählen und Bestimmen der Arten, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Man stellte fest, dass es Orte mit vielen und solche mit wenigen Arten gibt und dass diese Arten miteinander in Wechselbeziehungen stehen. Die Forschenden beobachteten, dass sich die Zusammensetzung und die Vielfalt der Arten dynamisch verändern, oftmals hin zu grösserer Monotonie und Langeweile. Seit den 1990er-Jahren wurden die Analysemethoden der Genetik immer ausgefeilter, günstiger und schneller. Das kam auch der Biodiversitätsforschung zugute: Plötzlich war es möglich, zu untersuchen, ob sich etwa Hirschpopulationen dies- und jenseits einer Autobahn unterscheiden. Und man fand genetische Differenzen. Nicht nur bei Hirschen, sondern auch bei anderen Tieren.

27. August 2024: Abstimmungsveranstaltung zur Biodiversitätsinitiative

Durch menschgemachte Infrastrukturen von Verkehrsschneisen bis Monokulturen ist die Landschaft heute in abgeschlossene Kammern zerschnitten. Das erschwert die genetische Durchmischung in der Natur. Nachdem man das entdeckt hatte, folgten rasch erste Hilfskrücken. Allenthalben wölbten sich plötzlich Wildübergänge über grosse Strassen, und Amphibientunnel unterquerten sie. Viele Siedlungsgebiete dagegen erwiesen sich als besonders biodivers, wie Studien etwa der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft seit den frühen 2000er-Jahren zeigen. Doch auch hier nimmt die Biodiversität ab. Überall kreucht und fleucht es weniger. Und die Schweiz hinkt bei den Schutzgebieten hinterher. Fast überall in Europa stehen mehr Prozent der Landesfläche unter Schutz als in der Schweiz siehe Grafik ‹Anteil der geschützten Fläche in den Ländern Europas›.

Anteil der geschützten Fläche in den Ländern Europas (in Prozent der Gesamtlandesfläche). Grau: Natura-2000- oder Emerald-Gebiet, Schwarz: andere nationale Schutzgebiete, gestrichelte Linie: EU-Ziel für 2030. Quelle: European Environment Agency 2015

Biodiversität wird politisch

Landwirtschaft, Energiepolitik, der Bau von Verkehrsinfrastruktur, Siedlungsentwicklung: Das alles sind höchst politisch-strategische Angelegenheiten, auf lokaler wie auf nationaler Ebene. Biodiversität ist politisch, und das in mehreren Feldern der Politik zugleich. Auch international gibt Biodiversität seit dem Umweltgipfel der Uno in Rio de Janeiro 1992 zu reden. Sie wurde mit der Uno-Konvention über biologische Vielfalt vor 30 Jahren offiziell zum politischen Begriff. Das Ziel des Abkommens – der Erhalt der Biodiversität – hat seither an Brisanz gewonnen, denn die biologische Vielfalt hat weiter abgenommen. Und zwar nicht nur wegen Infrastrukturen und Siedlungsbau: Vor allem das Landwirtschaftsland ist weniger vielfältig als noch vor 30 Jahren.

Sampling und Sinfonie

Abwechslung in der Natur ist funktional, weil sie Ökosysteme robuster macht. Diese reagieren besser auf Hitze, grosse Feuchtigkeit oder Krankheitserreger, die einzelne Arten stark einschränken können. Die Vielfalt trägt dazu bei, dass die Lebensgrundlagen erhalten bleiben, und sie hat auch einen ästhetischen Reiz. Zwar entsteht Biodiversität mit der Zeit von selbst, wenn man der Natur ihren Lauf lässt, aber dazu braucht sie gute Bedingungen und Platz. In der dicht bebauten und komplex organisierten Schweiz ist das eine Planungs- und Gestaltungsaufgabe. 2019 hat der Bund Schweizer Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten in seinen ersten, immer noch aktuellen ‹Standpunkten› festgehalten, wie das Gestalten mit einer vielfältigen Natur funktionieren soll. Heute zeigen konkrete Projekte und Forschung, wie es gehen könnte: von Biodiversitäts-Monitorwerkzeugen bis zu Handbüchern zur Stadt- und Quartiergestaltung. Biodiversität ist robust, nützlich und schön – Vitruv im Unkraut gewissermassen.

Angelehnt an Bachs verschlungenes Übereinanderstapeln von melodischen Motiven, ist das Gestalten mit Biodiversität die Kunst der Fuge. Heute würde man von gelungenem Sampling sprechen, dem Arrangieren zu etwas kongenial Neuem. Formal kann das ganz verschieden klingen beziehungsweise aussehen. Schlicht und durchdringend wie Minimal Music oder komplex wie eine Sinfonie oder verschachtelte Beats. Übersetzt in die Landschaftsarchitektur, geht es um das Spiel mit Arten und Lebensbedingungen, um das Improvisieren mit Biotopen. Konkret: gut gewählte Pflanzen, Zwischenräume, Ecken, Nischen schaffen. Biodiversität findet sich oft im Unaufgeräumten, im beiläufig Vergessenen. Das braucht Platz. Statt die Landschaft aufzuräumen, wie es in der Schweiz in den vergangenen rund 100 Jahren praktiziert worden ist, gilt es, Ordnung in der Gesetzgebung herzustellen und der Biodiversität den Raum zu geben, der ihr als Grundlage allen Lebens auf der Erde gebührt. Biodiversität bedeutet, ein wenig zurückzutreten und Fugen nicht abzudichten. Gestaltetes Abwarten also, damit das Wettrennen gegen den Verlust der Biodiversität gewonnen wird.
 

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