In Lenzburg öffnet das neue Stapferhaus seine Türen. Fotos: Désirée Good

Der Raum erzählt die Geschichte mit

Kein Museum – das neue Stapferhaus in Lenzburg ist ein Ausstellungshaus ohne Vorbilder.

«Das Stapferhaus braucht keine Sammlung, um Geschichten zu erzählen», sagt Herman Kossmann und lässt keinen Zweifel offen, dass er das gut findet. Das geblümte Hemd und die Jeans passen zum lockeren, aber bestimmten Auftritt des Sechzigjährigen. Der Amsterdamer Ausstellungsmacher kennt Programm und Team der Lenzburger seit 2013. Damals sprach er an einer Tagung zu Dramaturgie und Narration in der Ausstellungsarbeit. An der Schlüsselübergabe letzten Juli sah er sich bestätigt: Aus dem Stapferhaus wurde kein Museum. Trotz Neubau, der sich Mitten ins Zentrum Lenzburgs setzt und der Institution, die bisher an wechselnden Orten Ausstellungen inszenierte, eine feste Adresse und einen sichtbaren Auftritt verleiht. Kein Museum – das neue Gebäude ist ein Ausstellungshaus. Eines, für das er europa-, ja sogar weltweit kein Vorbild nennen könne, sagt Kossmann und streicht sich eine graue Locke aus der Stirn. Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Schliesslich half er Sibylle Lichtensteiger und ihrem Team die Vorgaben für den Architekturwettbewerb zu formulieren und war Mitglied der Jury.

Kossmann gehört zu den Ausstellungsmacherinnen und -experten, die seit den Achtzigerjahren das Medium erneuert und es aus dem Museum geholt haben. Inspiriert von multimedialen Erzählern wie Peter Greenaway denken sie auch die Räume anders, in denen sie ihre Geschichten vermitteln. Nicht das Museum mit seinen konservatorischen Einschränkungen und Galerien, sondern der maximal flexibel nutzbare Raum ist ihr Ideal – so wie ihn Pool Architekten realisiert haben. Oder sogar noch wandelbarer. «Im Dienst der Erzählung muss der Raum alles ermöglichen. Wir wollen Löcher in die Wände schlagen, wo es nötig ist. Fenster öffnen oder verdunkeln. Eine Ausstellung schwebend inszenieren. Die Eingangstreppe durchs Fenster führen, das Café in die Ausstellung integrieren, den Aussenraum mit einbeziehen.» Und nein, die Räume müssten nicht immer schwarz gestrichen sein wie nun für die Eröffnungsausstellung. Kossmann hofft, dass das Gebäude für die nächste Geschichte wieder ganz anders wirke. Der Raum müsse sich schliesslich nicht unsichtbar machen wie ein Kinosaal.

 

Ohne Raum keine Ausstellung

Doch Gebäude laufen der Szenografie stets voran. Auch im Fall Stapferhaus. Bleibt Szenografen nichts anderes übrig, als darauf zu reagieren? Kossmann, der die Eröffnungsausstellung gestaltet, denkt die Hierarchie zwischen Raum und Szenografie differenziert: «Wir transformieren den Raum stets so, dass er zur Ausstellung wird – statt lediglich eine Ausstellung in den Raum zu bauen. Unser Ziel ist ein erzählter Raum.» Die Raumabfolge, aber auch Wände, Decke, Haustechnik – alles kann Teil der Erzählung werden. Deshalb wünscht er sich eine Zauberkiste, die alles ermöglicht. Robust und unkompliziert.

Ein Eingang ist nicht nur Eingang, sondern führt in das Thema ein. Durchgänge leiten zu neuen Aspekten, Treppen auf inhaltlich neue Ebenen. Säle bieten Überblick, Kabinette vertiefen das Gesehene. Am Ende des Rundgangs machen Museumsshops mit der Lust am Entdecken gut Kasse; Cafés laden zum Verweilen. Räumliche Mittel zum Zweck sind Kojen, Kabinette, Ruhezonen, Treppen, Über-, Ein- und Ausgänge. Im kleinen Massstab sind es Vitrine, Sockel oder Rahmen, die einen Raum im Raum definieren und so den Dingen Bedeutung zuweisen, eine Aura verstärken. Das sind die Werkzeuge, die Geschichtenerzähler wie Kossmann einsetzen.

 

Regie einer Ausstellung

Raum für Raum baut sich dabei die Geschichte auf. Doch anders als im abgedunkelten Kino übernehmen wir selbst die Regie über die Erzählung. Kossmann vergleicht das Medium Ausstellung nicht mit dem Film, sondern mit einem Spaziergang durch die Stadt, bei dem wir Tempo, Weg, Blickwinkel selbst bestimmen. Was in der Stadt oder im Park über das Schauen, Schmecken, Riechen, Hören und Berühren Emotionen auslöse, diene ihm dazu, eine Geschichte zu erzählen. «Mehrstimmig und in Schichten. Dabei nutzen wir unterschiedliche Medien und eröffnen die Möglichkeit, in unterschiedliche Richtungen zu gehen.» Er könne im Übrigen jede Geschichte im Raum erzählen, sagt Kossmann selbstbewusst. Egal, ob über Stadtplanung, Mikroben, Psychiatrie oder holländische Geschichte. Natürlich brauche er dazu Fachleute, die über das nötige Wissen verfügen. Aber dann übernehmen Szenografen wie er: «Wir absorbieren den Inhalt und machen daraus einen erzählten Raum.»

 

Zeigen, was ist

Neben der Arbeit an Raum und Thema verlässt sich der Ausstellungsmacher auf die Kulturtechnik des Zeigens. Sie verführt uns hinzuschauen. Als Szenograf kontrolliere er nicht den Blick, aber er bestimme, was wichtiger oder weniger wichtig sei, platziere es im Raum und setze dafür gestalterische Mittel ein, sagt Kossmann.

Was passiert, wenn die Leute den Text nicht lesen? Dann nehmen sie das gross auf die Wand applizierte Stichwort aus dem Augenwinkel mit. Wenn sie nur zehn Minuten statt einer Stunde verweilen? Auch dann muss die Ausstellung funktionieren: atmosphärisch zum Beispiel. «Wir organisieren den Raum so, dass wir darin eine Geschichte erzählen können. In welcher Tiefe diese erfahren wird, darin ist das Publikum frei. Doch je länger man sich im Raum aufhält, desto detaillierter wird die Geschichte erlebt.»

So oder so: Jede Ausstellung bleibt an die Wahrnehmung im Hier und Jetzt gebunden. Der zweite, dritte Besuch derselben Ausstellung ist ein anderer. In diesem Punkt ist das Medium dem Theater verwandt. Es baut auf der realen, individuellen Erfahrung auf, die nicht vermittelt werden kann. Was ist real, was ist Inszenierung? Die Brüche ihrer eigenen Konstruiertheit macht eine gute Ausstellung sichtbar. Denn eine Inszenierung, die sich absolut setzt, erzeugt nichts als Schwindel – im doppelten Wortsinn. Die Eröffnungsausstellung ‹Fake› wird auch darauf eine Antwort geben.

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