Vom Klingen und Übertönen

Wer gibt den Ton an? Die serbisch-bosnische Autorin Lana Bastašić hat in der Stadt Zürich Vögeln und Glocken zugehört – und sich auf historische Spurensuche begeben.

Fotos: Radmila Vankoska

Wer gibt den Ton an? Die serbisch-bosnische Autorin Lana Bastašić hat in der Stadt Zürich Vögeln und Glocken zugehört – und sich auf historische Spurensuche begeben.

Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Kotte   Ein fast blinder Schriftsteller sagte mal, man solle die Augen schliessen, um zu sehen. Er starb vor achtzig Jahren in Zürich. Ich versuche, seinem Rat zu folgen und mit den Ohren zu sehen. In Hottingen sind es meist Vögel und Glocken. So weit meine ornithologischen Kenntnisse reichen, scheinen die Vögel hier glücklich zu sein. Sie sind unterschiedlich, laut und ziemlich forsch. Die Hainbuche vor meinem Balkon funktioniert hier als eine Art Vogel-Tinder. Es gibt eine männliche Amsel, die besonders erpicht darauf ist, ihre störrischen Gene weiterzugeben, vor allem wenn ich zu schreiben versuche. Aber ich habe nichts gegen den Vogelgesang. Er hat etwas Chaotisches, das mich beruhigt. Ein bisschen Chaos und ein bisschen Harmonie. Egal, wie repetitiv die Töne sind, die Intervalle, der metallische Ein-Sekunden-Schrillton – im Klangmuster ist immer etwas Unaufspürbares. Eine Abweichung taucht hier und da auf, immer dann, wenn man eine bekannte Melodie erwartet. Und diese Abweichung gefällt mir. Wo es eine Abweichung gibt, eine unerwartete Unregelmässigkeit, da ist Leben. Es ist wie ein Farn, der durch eine Steinmauer bricht, oder ein kleiner Fussabdruck, der den glatten Zementweg unterbricht. Unregelmässigkeiten sind der Beweis dafür, dass etwas irgendwann irgendwo gelebt hat. Sich bewegt hat. Geatmet hat. Und gestört hat. Vögel sind aber nicht das Einzige, was ich hier höre. Es gibt auch einen anderen Gesang, einen ganz anderen, dessen bronzene Arroganz die Vögel zum Schweigen bringt und den Tag in gleiche Scheiben schneidet. Und doch hat er seine eigene grandiose Schönheit, so kalt und präzise, wie er ist, gegen seine federleichte Konkurrenz. Es sind die fünf Glocken der Kreuzkirche, deren Turm ich durch das nach Osten gelegene Fenster sehen kann. Diese Glocken geben über den Tag verteilt fünf verschiedene Töne ...

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