Ein lebendiges Kuchendiagramm: 100 Zürcherinnen und Zürcher stehen auf der Bühne. Fotos: PD

Eine ganze Stadt auf der Bühne

So macht Statistik Spass: 100 Personen stehen auf einer riesigen Scheibe im Kreis, zusammen sind sie ein lebendiges Kuchendiagramm oder «100 Prozent Zürich». Das Regie-Trio Rimini Protokoll hauchte letzte Woche im Theater Gessnerallee den trockenen Zahlen des statistischen Amtes Leben ein.

Sie wählten 100 Personen aus, die einen statistisch relevanten Querschnitt durch die Stadtbevölkerung bilden. Jede Person repräsentiert 3900 Zürcherinnen und Zürcher, also einen Hundertstel der Bewohner. Alle Stadtkreise, Altersgruppen und sozialen Schichten sind vertreten: Der Rechtsanwalt aus dem Seefeld steht neben der Familie aus Schwamendingen, die 84-jährige Grossmutter neben dem vierjährigen Kind.

Zwei Stunden lang werden die 100 Zürcher statistisch durchleuchtet und mit Fragen bombardiert. Statt mit Kurven, Balken und Kreisen zu langweilen, verblüfft die präzise Choreografie mit statistischen Bildern: Die Personen teilen sich in eine Ja- und eine Nein-Gruppe auf, zeigen mit farbigem Blatt ihre Meinung an oder leuchten im Dunkeln mit der Taschenlampe, um anonym abzustimmen. Sie beantworten alle Art von Fragen, von ganz simplen (Haben Sie ein eigenes Handy?) bis zu philosophischen (Glauben Sie an Gott?). So erfährt der Zuschauer, wie die Zürcher ticken. Nur eine Handvoll würde für ihre Stadt töten. Viele regen sich über die Deutschen auf. Und die Mehrheit möchte das Bankgeheimnis abschaffen. Anders als bei einer Powerpoint-Präsentation lernt man die Menschen und Geschichten hinter den Zahlen kennen. Etwa den Drogenabhängigen, der von seiner Sucht loskam. Die Kenianerin, die im Casino als schwarze Hexe beschimpft wurde. Oder den politischen Aktivist, der wegen einer Demonstration den Job verlor.

Mit jeder Frage lernt der Besucher nicht nur über die anderen, sondern auch über sich selbst dazu. Stets fragt er sich: Wie würde ich abstimmen? Bin ich in der Mehrheit? Wer stimmt ab wie ich? Verfolgt er eine Person, merkt er, wie schlecht er ihr Abstimmungsverhalten vorhersagen kann. Die Performance zeigt, wie vielschichtig die Zürcher Bevölkerung ist und wie wenig sich eine Person schubladisieren lässt. Sie macht aber auch deutlich, wie individualisiert die Gesellschaft ist. Keine zwei Personen stimmen bei allen Fragen gleich ab. Kaum eine Frage beantworten alle hundert mit Ja oder Nein.

Nach der Aufführung am Freitag sprachen die drei Regisseure von Rimini Protokoll im Rahmen eines «Arch+ features» über ihre Arbeit. Für sie ist klar: Die Performance ist ein Spiel und nicht die Realität. Die Stadt sei viel komplexer und widersprüchlicher als man sie mit den hundert Personen abbilden könne. Das Bild ist leicht verzerrt und nicht jede Stimme kommt zum Zug. Doch das statistische Spiel öffnet einen die Augen für die eigene Stadt. Denn auf der Bühne stehen keine Schauspieler, sondern reale Personen. So nahe kommt man den Stadtzürchern nirgends. Denn nach der Vorstellung verschwinden sie alle wieder in ihren Kreisen.

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