Der eidgenössische Oberförster Wilhelm Johann Fortunat Coaz.

Das rastlose Leben des Johann Coaz

Der eidgenössische Oberförster hat die Landschaft der Schweiz geprägt. Eine Suite in Wort und Musik erzählt sein Leben.

Er schrieb das Schweizer Waldgesetz, war Oberförsters bis ins hohe Alter, Bergsteiger, Landschaftspolitiker, Lawinenforscher. Am Fest der Baukultur in Chur führt die Bandella delle Millelire die Suite über das Leben des eidgenössischen Oberförsters Coaz auf.

Die Kapelle spielt den «Valzer per Johann». 

«Das ist der Tanz der Eichen mit den Buchen. Und der der Eiben mit den Arven. Sie feiern. Sie schwanken im Wind und klatschen mit Blättern und Nadeln. Denn am 1. Juni 1875 hat Johann Wilhelm Fortunat Coaz aus Chur seine Stelle als erster eidgenössischer Oberforstinspektor in Bern angetreten. Und ein gutes Jahr später schon gilt das erste eidgenössische Forstgesetz, das den Buchen, Eichen, Fichten und Arven ein besseres Leben verspricht. 

Coaz hat dafür einen Mythos des Naturschutzes, ja der Weltrettung als Gesetz entworfen: Nur so viel Wald roden wie nachwächst. Eine alte Försterweisheit. Nachhaltig, wissenschaftlich begründet, ökonomisch bewirtschaftet, zentral polizeilich gelenkt und behütet. Harte Strafe dem Frevel. Der eidgenössische Chefbeamte für Wald, Wild und Fische ist 53 Jahre alt und wird seine Arbeit nun tun bis er 92 Jahre alt sein wird. Vierzig Jahre fast selbstbewusst als Arm des liberalen Staates, der Zähne zeigt und klare Vorstellungen hat vom Staat als Gestalter. Kein Marktgeplauder, kein Profitgesäusel für Wenige – ein staatliches Programm für die Landschaft und die Wohlfahrt aller mit Forstpolizeigesetz.

Der Oberförster muss die Kantone und Gemeinden im Gebirg ins Geschirr nehmen. Der Wald ist ihr einzig namhafter Verdienst, der Hunger der Städte im Mittelland nach Holz gewaltig, der Hunger der Dampflokomotiven nicht nur nach Kohle, sondern auch nach Gebirgswald gross. Fortunat Coaz kennt die dort oben gut, er ist einer von ihnen, er spricht romanisch. 

Er war jahrelang der Kantonsförster von Graubünden und beschreibt in seinem Waldtagebuch die Waldverwüstung im Gebirge: Kahlschlag, Kulissenschlag, wüste Hänge. Und der Wald, den die Arbeit abholzt und die wirtschaftliche Not hektarweise vernichtet, wächst nicht nach, denn die Ziegen fressen die jungen Zweige auf. Und weder Wissen noch Einsicht gibt es, dass das keine Zuversicht ist. Er gehört zur Oberschicht und schreibt über die unten zum Beispiel von Ramosch: «Fleissiges aber ungebildetes Volk. Wenig Pferde, aber viel Ochsen. Die alten Weiber arge Kaffeetrinker, sehr redselig, besonders am Brunnen. Merkwürdige, an wilde Völker erinnernde Gebräuche.

Coaz und seine Forstfreunde am eben erst gegründeten eidgenössischen Polytechnikum von Zürich haben aber erforscht, dass die Überschwemmungen, die das Land bis weit in seine Zentren regelmässig heimsuchen, mit der Substanz der Landschaft im Gebirge eng verknüpft ist. Wo Kahlschlag, da freier Abfluss. Natur schützen heisst das Mittelland schützen, die Städte, wo der Fortschritt brummt. Strenge Hand soll er anlegen im Gebirge. Coaz war Sekretär von General Henri Dufour im Sonderbundkrieg gewesen. Die Sieger in den Städten hatten mit dem kantonalen Eigensinn der Innerschweiz und des Wallis aufgeräumt. Zuerst aber ist Wissen um den Wald nötig. Das Reisepensum des eidgenössischen Inspektors ist eindrücklich: Zürich-Glarus-Chur-Tessin-Zug-Stans-Sumiswald-Thun-Bern. Und grad noch einmal eine Strecke, und noch einmal eine. Eisenbahn ab und zu, zu Fuss viel. Der Förster als empirischer Forscher, denn die Eidgenossenschaft ist jung und hatte wenig Vorstellung über ihre Landschaft, ihren Wald und die Auswirkungen zentraler Politik. Johann Coaz reist, vermisst, schreibt auf, zeichnet, verhandelt. Aber er ist nicht nur ein Ingenieur, er ist auch ein Liebhaber – 

«Ja, im grünenden Wald, auf den Bergen der freien Schweiz
Sucht mein Geist nur zu leben, sucht das Herz nur sein Wohl
Pflanzen will ich und säen, fällen den alternden Stamm,
Bauen will ich ein Hüttchen, nicht für mich nur allein
Nein im Arme der Liebe will ich ruhen des Abends
Will vom Kusse beglückt eilen des morgens ans Werk»

 
So dichtete er 1843 im Hexameter, eben das Diplom als sächsischer Forstwirt im Sack. Er sei ein feiner Mann gewesen, ein Diplomat, ein Zeichner, ein Zuhörer, ein Musikkenner – gewiss aber ein rastloser Mensch. Sohn eines Bündner Offiziers in holländischen Diensten, geboren in Antwerpen, als Bub dann in Chur. Und von weitem tönt die Musik leise und immer lauter mit dem Haldensteiner Hochzeitswalzer, für den Pauline Lütscher, die Musikliebende, den Takt angibt.» 

Die Kapelle spielt den «Valzer per Paulina».

Coaz' Ehefrau Pauline Lütscher.
«Ob die Hochzeit in Mastrils ausgelassen war? Coaz ist ein Asket, ein drahtig Rastloser, immerfort aufwärts strebend im auf Aufstieg versessenen 19. Jahrhundert. Zwei Jahre vor der Hochzeitsfeier hat er 1850 als Erster eine Fahne auf den Piz Bernina gesetzt und dem höchsten Berg Graubündens auch den Namen gegeben. Vorher war er als erster auf Piz Tschierva, Piz Led, Piz Güz. Jahre zuvor schon auf dem Piz Lischana, Piz San Jon, Piz Quattervals, Piz Fier im Unterengadin und auf dem Piz Kesch –  21 Erstbesteigungen notiert er in seinem Tagebuch, das er von seinem 16. bis zu seinem 96. Lebensjahr schreibt. Eine Mischung aus blumiger Schilderung und wissenschaftlicher Datensammlung, in den Bergsteigerkapiteln mit Dank an seine Begleiter Lorenz Raguth Tscharner, den Koch, und Jon Raguth Tscharner, den Träger. Er ist ein umsichtiger Mann. Er weiss, dass auch ein Pionier nicht allein ist. Das wird ihm nützen als Beamter die Strippen ziehend. Doch nun aufwärts. SAC Hütten gibt es aber noch keine, Coaz gehört ein paar Jahre später zu ihren Erfindern. Als Seile müssen Hanfstricke genügen, dazu Beile und ein langer Stecken mit Metallspitze, weder Steigeisen noch Sonnenbrille, dafür immer genügend Enzianschnaps. 20 Stunden waren er und die Tscharners unterwegs auf den Piz Bernina und zurück.

Die Berge sind für Johann weder Turnhalle noch Fitnessabenteuer. Er ist Landvermesser für Henri Dufour. Er vermisst grosse Teile Graubündens und zeichnet mit wissenschaftlich geführtem Auge die Landschaft des Kantons für das erste zentral organisierte Bild der Schweiz – die Dufourkarte. Landschaft sehen ist eine hervorragende Etüde für seinen Beruf – Förster zuerst für Graubünden, dann für die Schweiz. Ein Waldforscher und Waldpolizist. 

Ob das Liebenswerben um Pauline und die Hochzeit ausgelassen waren, wissen wir nicht, denn die Seiten dieser Tage sind aus dem Tagebuch ausgerissen. Was wir aber wissen, ist, dass er als Spitzensportler seine Pauline auf der Hochzeitsreise durch Europa jagte. 

Als Kind aus der gutem Hause wollte Pauline Lütscher nach Venedig. Standesgemäss. Johann folgte, aber er bestimmte den Weg und den Takt. Am Morgen nach der Hochzeit, ging’s mit der Kutsche nach Rorschach, dann mit dem Dampfschiff über den Bodensee und in einer Kurve über München, Wien, Laibach, Triest für 48 Stunden nach Venedig und zurück über Verona, Como und den Splügen nach Chur. 29 Tage, rastlos und mit Vollprogramm für Architektur, Statuen und Pärke. Coaz notierte: «Müdigkeit meiner Frau», «Mit F. Stassen durchzogen», «mit F. Einkäufe getätigt». Pauline heisst sie nie, nur F oder Frau. Er schreibt nicht über Gefühle, ausser wenn es um Bäume geht. Pauline wird sechs Kinder kriegen und jung, mit 46 Jahren, sterben. Ihr Mann war doppelt so alt, als er als eidgenössischer Förster den Taktstock abgab. Er liebte Musik, er liebte den Marsch, vorwärtsdrängend wie eine Maschine.»

Die Kapelle spielt «Ingeniere Coaz». 

Berniaroute, in von der Coaz gezeichneten Karte

«Schutzbauten gegen Lawinen waren mehr abwehrender Natur, man liess seinen Feind an sich herankommen, und erst vor dem Haus oder Stall suchte man seinen Angriff zurückzuschlagen. Endlich ging man radikaler vor, man begab sich an den Ursprung der Lawinen und verhinderte wenn möglich ihren Anbruch». Johann Wilhelm Fortunat Coaz ist Ingenieur und Offizier. 88 Jahre alt beschreibt er sein napoleonisches Programm, die Essenz seines Denkens und Wirkens, im Buch «Statistik und Verbau der Lawinen in den Schweizer Alpen» – es ist bis heute ein Standardwerk für seine Nachfolger am Institut für Schnee und Lawinenforschung in Davos, das er angeregt hat. Wissenschaftlich akribisch beschreibt Coaz in seinem Buch hunderte Lawinenzüge der Alpen, die seine übers Land verteilten und nach einheitlicher Methode arbeitenden Förster versammelt haben. Er entwickelt eine Typologie der Lawine. Er besorgt ihre Mathematik. Er erklärt als Historiker ihre Geschichte. Und entwirft als Ingenieur mit schönen Zeichnungen ihre Verbauungen. Alles in der klaren Logik des Offiziers, der will, dass man einen Feind nicht an sich herankommen lasse, sondern ihn beim Anbruch schlage.  

Coaz ist ein Pionier des Waldes und der Landschaft, ein Freund der Vögel und der Steinböcke und er ist der Feind der Lawine. Eine hat ihn als Bergsteiger zu Tal befördert, er hat notiert, wie sie wo dem Wald zusetzt und dass dies eng zu tun hat mit der Vernichtung des Waldes. Wo kein Wald, da Lawine. Und er will das strenge Programm des Bundes unterstützen. Das Land soll in schnellem Tempo für den Fortschritt erobert werden. Gegen den Eigensinn der Wildnis und die Eingeborenen. Die Verkehrswege sind die Adern dieses Fortschritts, die Lawinen auf die Gotthard- und Lötschbergbahn und auf die RhB sein schon beim Anbruch zu schlagender Feind. 

Für den Feldzug, der bis heute unvermindert dauert, entwirft er die technischen, logistischen und finanziellen Programme. Er lässt 1868 oberhalb von Martina die ersten Lawinenverbauungen der Schweiz bauen: 19 Mauern von 400 Metern Länge und 500 Meter Holzpfähle nahe dem Anbruch des Feindes, den er vorab rekognosziert, gezeichnet und notiert hat. 1600 Franken kostet seine Pioniertat. Soviel kostet heute ein Meter Lawinenschutz. Im besiegten Lawinenzug wächst der Wald. Für 2 Millionen Franken lässt Coaz in seinen 40 Amtsjahren Lawinen verbauen, heute stecken 2 Milliarden Franken in den Wällen, Mauern, Rechen und Netzen am Anbruch.

Coaz hat sein Denken im Sonderbundkrieg, wo er vorne mit dabei war, geschult. Seine Taktik ist hoch aktuell. Wir lesen im jüngsten Klimabericht der UNO: «Schutzmassnahmen gegen die Klimaerwärmung waren einst mehr abwehrender Natur, man liess seinen Feind an sich herankommen, und erst vor der Stadt und dem Haus suchte man ihren Angriff mit schattenspendenden Bäumen zurückzuschlagen. Endlich geht man radikaler vor, man begibt sich an den Ursprung der Klimaerwärmung und verhinderte wenn möglich ihren Anbruch. Man stellt die Oelheizungen ein, man verschrottet das Auto mit Verbrennungsmotor und man schafft die Fliegerei ab. Denn es gilt: Man kann die Wucht der Klimaerwärmung nicht reduzieren, man kann sie nicht besänftigen mit einem Grenzwert – man muss sie besiegen, bevor sie übers Tal donnert.» 

Die Kapelle spielt den «Valzer per Remigio».

 
Die Nationalpark-Mannschaft in der Val Cluozza.
«Die Musikanten haben klamme Finger. Sie stehen hinter der Hütte in der Val Cluozza im Unterengadin. Sie haben noch ein Stückli gespielt, Il Valzer da Remigio. So will man die Zeit überbrücken. Denn Johann Coaz ist zu spät. Die Festgesellschaft in der Wildnis mag nicht mehr warten. Der Fotograf drückt ab und belichtet die Gründerväter des Nationalparks. Der 91 Jahre alte Coaz hat die Exkursion organisiert, er fehlt – Bundesrat Calonder, National-, Ständeräte. Und Steivan Brunies der enge Freund. Auch er Naturforscher, auch er ein Zweiweltler wie Coaz. Zuhause in Graubünden und in Basel, zuhause in der Natur und in der Wissenschaft. Und auch er ein Freund der Musik. War Coaz in Dresden, verpasste er die Semperoper nicht. Sein Freund Steivan war der Sammler der Unterengadiner Musik, Mazurken, Märsche, Walzer – so liess er die Kapelle den von Remigio spielen. Denn Remigio hiess das Lieblingstier der zwei Freunde, ein Steinbock. Remigio vereint die beiden alten Herren in einer Idee: Nationalpark. Steivan organisiert mit seinen Freunden aus dem Basler Bürgertum den gesellschaftlichen Aufbau der Idee. Eine grosse Fläche soll vor der Wucht der Modernisierung geschützt werden. Johann organisiert als mit allen Wassern gewaschener Chefbeamter, der 32 Bundesräten gedient hat, den politischen Aufbau dieser staatlich zu verfassenden Idee. Mit Diplomatie und Geld, mit Druck und Zug, gelingt die Idee, der Johann Fortunat Coaz schon als junger Mann auf Vermessungstouren im Unterengadin anhing – eine Landschaft, wo keine Axt und kein Schuss erklingen dürfe. 1912 verabschiedet das Parlament die Urkunde, dass zwischen Scuol, Zernez und dem Ofenpass der Nationalpark eingerichtet werde. Zwischen dem Traum des jungen Landvermessers und den letzten Buchstaben, die der 89 Jahre alte Oberförster ins massgebende Gutachten für Bundesrat und Parlament schreibt, liegt die Erforschung der Alpen, die Eroberung ihrer letzten Terrains, die Romantik des Bürgertums und die Entstehung der Republik Schweiz, die  am 1. August 1914 ihren Nationalpark gründet – gleichentags erklärt Deutschland Russland Krieg, Frankreich macht mobil und die Britische Flotte läuft aus zum 1. Weltkrieg.» 

Die Familienidylle im Garten der Masanserstrasse.
«Johann Wilhelm Fortunat ist ein uralter Mann nun, 92 Jahre hat er 1914 auf dem Buckel, er steht aber immer noch gradauf wie eine stramme Föhre. Er hat sich pensioniert als eidgenössischer Förster. Vier Jahre noch wird er in Chur leben. Mit 96 Jahren stirbt er am 18. August 1918. Dem Tag, der als Wendepunkt des Ersten Weltkriegs gilt. Die Allierten begannen das deutsche Heer zu vernichten. Eine neue Welt beginnt.

Vier Jahre aber noch hat Johann Coaz. Er bestellt seinen Garten vor der Villa an der Masanserstrasse in Chur und seinen Baumgarten beim Schloss Marschlins. Er porträtiert die Bäume in Chur, er ist ein famoser Zeichner – immer noch. Er ist glücklich, wie seine Mammutbäume an der Bahnhofstrasse gedeihen, und die Platanen an der Turnerwiese. Wie immer ist er elegant gekleidet. Die Sonne über dem Calanda geht unter. Da kommt seine Schwiegertochter mit drei Enkeln zu seinem Gartenhaus. Er streichelt seiner Liebligsenkelin über das Köpfchen. Die Kapelle steht im Gehölz hinter dem Gartenhaus und holt Luft. Die Mutter sagt: Allez hopp. Die älteste hebt das Füsschen, die kleinen folgen ihr und sie tanzen für den Grossvater das Lied, das sein Lebenswerk umtanzt, zum «Valzer del Bosco». 

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