Jakob war in Berlin

Ein Berliner Feuilleton

Hochparterre schickte seinen Chefredaktor nach Berlin in die Ferien. Er wanderte 130 Kilometer, war enttäuscht über die öde Bauerei und hatte Freude an den Bäumen.

 

Hochparterre feierte im letzten Herbst seinen 30. Geburtstag. Die Hochparterris schickten mich zum Dank für eine Woche nach Berlin. Ach, wie lange war ich nicht mehr dort. Mit dem Zug also fuhren wir – Luci, meine Frau, und ich – acht Stunden durch Deutschland. Reisend hörte ich Hannes Messemer zu, der mir von der CD «Berlin Alexanderplatz» vorlas, den neunzig Jahre alten, grossen Roman von Alfred Döblin über das Berlin der Zwanziger Jahre. Dazu betrachtete ich die immer ähnlicher werdende Heidelandschaft. Ein paar Stunden später stand ich auf dem Alexanderplatz, denn eine Viertelstunde zu Fuss war unser Hotel nur fort. Auch wenn viele Zeichen der DDR abgerissen worden sind – der Fernsehturm ist eine starke Landmarke. Eine begehrte Liftfahrt auch, denn drei Stunden Anstehen ist Brauch. Das tat ich nicht. Und so stellte ich mir vor, wie Antje, Hochparterres Grafikerin,  als DDR-Mädchen auf dessen Kugel im Kreis herum fuhr, auf Geheiss eines Sicherheitsmannes die Augen jeweils schliessend, wenn die Drehung den Ausblick nach Westen bot. Der Alexanderplatz ist ein Aufmarschfeld der Investoren, die sich mit Einkaufspalast-Architektur übertrumpfen; ihr Triumpf  ist eine riesige rote Mauer, in dem das Shopping-Zentrum «Alexa» eingerichtet ist. Auf dem Platz versorgt die Caritas dutzende Obdachlose mit einer Wurst und Suppe. Zerschlagene Gesichter, böse Beine, laute Stimmen. Ich nahm meine Suppe in einem der Restaurants ringsum. Mich beeindruckten die Lautstärke im Säli, wie intensiv die Gäste trinken und wie grob die Kellner sind – wir sprachen beide Deutsch, sie verstanden mich aber schlecht, mir fehlten zu viele geläufige Stadtworte. 

Gesunde Woche

Nach sechs Tagen sagte mein Schrittzähler auf dem Handy: «129 Kilometer, 89 Stockwerke». Es war eine gesunde Woche, wir fuhren mit Bus, Tram, U- oder S-Bahn jeden Tag in eine andere Richtung, stiegen irgendwo aus, und liefen von dort so zum Theater- oder Konzertsaal, dass Musse blieb vor der Aufführung ein Bier zu trinken. Und schaffte ich es so erstmals in das seltsame Haus der Philharmonie zu einem Chorkonzert. Welch überraschender Saal fürs Ohr, fürs Raumauge. Das Publikum im Theater und im Konzert ist im Durchschnitt erheblich jünger als bei uns, die Eintrittspreise in die Oper sind fünf Mal günstiger. Die Inszenierungen sind oft konservativ – werktreu; mir gefällt das, denn ich mag es, wenn mich visuelles Spektakel nicht allzu sehr von der Musik oder dem Drama ablenkt. Am Leseabend mit Wolf Biermann sass Hochparterres Chefredakter mit Deutschlands Kanzlerin zusammen. Angela Merkel war mit drei Freunden da, diskret zwei Muskelmocken in ihrer Nähe. Die Zuschauer liessen sie in Ruhe, kein Selfie, kein Aufsehen. So wie wenn bei uns Ueli Maurer in die Oper ginge. Mich hat das verblüfft, denn ich dachte, die deutschen Grosspolitikerinnen treten mit Leibgarde auf. Vor dem Theater zwei schwarze Limousinen. Und ja – Biermann war launig, heiter, quicklebendig und grossshansig. 

Architektur schauen

Architektur schauen gehört sich für einen Chefredaktor einer Architekturzeitschrift.  «Architekturführer Berlin», das dicke Buch von Dominik Schendel, das mir Werner Huber, der reiselustigste Hochparterri mitgab, in der Hand, fädelten wir die Wanderungen von den zufällig gewählten Haltestellen aus so ein, dass beschriebene Häuser an der Route lagen. Das meiste zeitgenössische Bauen in der Innenstadt ist wie anderswo in solchen Städten: Klotz, Protz. Die neuen Ministerien schinden Eindruck, die neuen Geschäftshäuser sind die hundertfache Langeweile der Zürcher Europaallee, wobei nach der steinernen Zeit, die Investoren nun offenbar Glas und Stahl wollen. Wo die Mauer stand, steht jetzt am Leipziger Platz statt «the Wall» «the Mall of Berlin» als «perfect shopping experience».
Zur Zeit werden auch viele Lücken gefüllt. Alte Häuser wie Zähne aus Reihen gebrochen, phantasievoll aufgestockt, oder sie erhalten elegante Rucksäcke angehängt. 
Die Pärke werden mit Baureihen befestigt. So ist der neue, weite Park am «Geleisedreieck» in der Nähe des Potsdamer Platzes nun ein gutes Stück zugemauert mit Stadtvillen, die die Lage am Park zwar mögen, aber sich mit Zäunen und Buschwerk vor der weiten Fläche und wohl der auf ihr sich tummelnden Menschen schützen. Was die Schweizer Städte mit den SBB erleben, erlebt Berlin mit der DB – die volkseigenen Betriebe führen sich auf wie börsenkotierte Immobiliengesellschaften.
Fasziniert haben mich die Zwischennutzungen auf grossen Industriebrachen in den Aussenbezirken – en-gros-Märkte von Vietnamesen zum Beispiel mit abertausenden T-Shirts und Unterhosen, dazwischen Garküchen, Nail- und Hairshops. In einem hiess mich Luci, mir die Haare schneiden zu lassen, nachher gab’s vietnamesischen Zmittag. Schaue ich sonst, wenn ich in die Fremde reise, immer in Gault & Millau, taten wir dies in Berlin nicht. Meistens Garküche, fast jeder Kebab-Stand bietet «Vegetarisch mit alles und scharf», einmal assen wir Spargel aus Berlin in «Clärchens Ballhaus», ein zufälliger, schöner Fund in einer Seitengasse. 

Zickzack-Haus und ...

Das Jüdische Museum fehlt in dem mich begleitenden Architekturbuch. Die Programmarchitektur von Daniel Libeskind ist  eindrücklich. Räume auf eine Interpretation von Geschichte hin zugeschnitten – von einem Platz aus die drei Wege der Juden und Jüdinnen in den Tod, in die Emigration oder in die scheinbare Normalität. Am Schluss jedes Wegs ein spektakulärer Raum, ein Labyrinth, eine Enge, ein Dunkelraum. Knappe Informationen in Bildern und Texten nur. Eingepackt das Ganze in ein Zickzackzuck, angebunden an einen alten Museumspalast. Architektur, die reden will und reden kann. In meinen Berliner Tagen polterte der israelische Regierungschef die Sonderausstellung über Jerusalem im Jüdischen Musem müsse sofort geschlossen werden, weil sie behaupte in Jeruasalem gäbe es auch Palästinenser mit Lebensrechten.

... Glaspavillon des Gedenkens

Anders die «Topografie des Terrors». Wo Peter Zumthors Betonbalken stehen sollten, steht nun ein ruhiger, unscheinbarer Glaspavillon. Container- keine Programmarchitektur. Im Glashaus ist der Schrecken der Nazi-Herrschaft wie ein Buch ausgestellt mit hunderten Bildern und Textzeilen. Vor dem Haus dient eine Fundamentmauer der Nazi-Folterzentrale als Ausstellungsträger – zu sehen ist wieder ein aufgereihtes Buch. Sehr gut komponiert, gut erzählt – aber es ist bequemer ein Buch als Buch und nicht als Panel zu lesen. 
Hunderte Schulkinder in beiden Museen; es wird viel gemahnt in Berlin – im Herzen sind mir die kleinen Messingplättchen auf dem Trottoir gelieben. Auf sie geprägt: Rahel Herz, 7.3. 1912 geboren; 8. 11.43 in Auschwitz gestorben, um Rahels Gedenken herum für jede und jeden der getöteten Familie Herz ein Messingplättchen von fünf auf fünf Zentimeter. 

Windersame Wucht

Keine Ahnung, wie die eindrückliche Renovation von Berlin in den letzten dreissig Jahren gesellschaftlich und wirtschaftlich hat funktionieren können. Den Osten hatte ich verlottert, den Westen prekär und verarmt in Erinnerung – die wuchtige Transformation von West- und Ostberlin zu einer Stadt ist die wohl grösste Leistung der Berliner Politikerinnen und Bauleute. Die aufgeräumten Plattenbauten in Marzahn, wo tausende Wohnungen in Schlangen aufgereiht und aufgetürmt sind, das auf grünen Mittelstandsschick umgebaute Quartier «Prenzlauer Berg» und das Geklotze auf und um die Museumsinsel und das «Schloss» geben einen Massstab, der der Schweiz fremd ist . Die Transformation wird viele Menschen vertrieben haben? Gewiss strömten viele neu herbei – es wird viel englisch geredet. Die Berliner lancieren zur Zeit eine Wohnraumdebatte: Die grossen Wohngesellschaften sollen enteignet, 50 Prozent der Wohnungen sollen gemeinnützig organisiert werden, der scharfe Anstieg der Mieten gesetzlich gebremst werden. Selbstverständlich stiftet die bis weit in bürgerliche Kreise abgestützte Initiative viel Aufregung. Eins drauf gab in meinen Berliner Tagen in einem Zeitungsinterview Kevin Kühnert, der Vorsitzende der Juso. Er forderte eine  Vergesellschaft der Wirtschaft, einen wirksamen Ausgleich zwischen arm und reich. Und seine älteren Genossen begannen umgehend, ihm den Teufel auszutreiben. Kühnerts Positionen sind in der SP Schweiz gut gelitten. Vielleicht ist sie darum besser beieinander als die abstürzenden deutschen Genossen?

Berliner Bäume

Schliesslich die Schönheit der Berliner Bäume. Sie stehen für eine weite grüne Stadtlandschaft – die Weltstadt hat viel Luft und Raum, die Quartierstrassen sind oft Chaussen mit breiten Trottoirs und mit oft schön viel Platz für die tausenden Velofahrerinnen.Viele Strassen sind gesäumt von Bäumen, die in meinen Berliner Tagen kräftig ins helle und dunkle Grün drückten. Gesunde Bäume, oft wachsend aus einem Erdviereck, wo Bewohner Blumen und Gemüse pflanzen. Der Senat soll, las ich in der Zeitung, den Pflegebeitrag pro Baum auf 80 Euro pro Jahr erhöhen. Jeder Baum hat seine Pflegetruppe; in der Zeitung berichtete eine Gärtnerin, wie sie mit drei Gehilfen tagein tagaus in den ihr zugeteilten Strassenzügen die Bäume pflegen. Als ich nach Tee von Berliner Linden in der Wirtschaft frug, staunte die Kellnerin den Fremden ratlos an. «Berliner Lindenblüten» – das wäre eine Geschäftsidee. Berliner Lindenhonig ist schon ein gutes Geschäft. 
 

close

Kommentare

Juliane 21.05.2019 13:37
Warum die Philharmonie als seltsames Haus beschrieben wird, verstehe ich nicht und der Park in der Nähe des Potsdamer Platzes heißt Park am Gleisdreieck. Beste Grüße einer geneigten Hochparterre Leserin aus Berlin
Franz 20.05.2019 23:09
Naja so fremd bist du ja nicht, du fühlst dich nur so... fühle ich mich aber auch als Deutscher in Berlin ein wenig. Oder ist es eher die Wucht dieser (einstigen) Metropole, die zugleich begeistert und erschrickt? Und die Kellner waren nicht so nett, lese ich da ein bis zweimal heraus? Liegt vielleicht am Trinkgeld oder am miesen Wetter in Berlin... und schon gewusst? In der Gastro ist es einfach hart. Das ist manchmal fast wie beim Militär... Zack zack... also ein bisschen Gnade mit den unfreundlichen Kellnern. Die müssen ja auch irgendwie mit ihrem Leben umgehen. Die einen sind halt scheiss freundlich und die anderen eben nicht. Jetzt musst du dir nur noch aussuchen, ob dir Ehrlichkeit oder das andere (Politik?) lieber ist.
Kommentar schreiben