Hochparterres Chefredaktor Köbi Gantenbein. Fotos: Fridolin Walcher

Die Kunst und das Engadin

In Susch ist neulich das Muzeum eröffnet worden. Kostbare Architektur für eine bedeutende Sammlung zeitgenössischer Kunst. Doch das beste Kunsthaus des Tals steht im Nachbardorf Lavin – die Kirche St.Georg.

Das Engadin ist ein Tal der Kunst. Die Familie Giacometti, Giovanni Segantini, Not Vital, die bildenden Künstler; eine Reihe guter Architekten, aber auch Schriftsteller wie Clà Biert oder Romana Ganzoni, zeitgenössische Lyrikerinnen wie Leta Semadeni, Rut Plouda oder Gianna Olinda Cadonau; Fotografen wie Albert Steiner einst und Florio Puenter heute und auch Musiker wie Domenic Janett oder der Tenor Christian Jott Jenny, seit kurzem Gemeindepräsident von St. Moritz – das Engadin und die Kunst haben es seit vielen Jahren gut miteinander.

Imposantes Muzeum

Und nun Grażyna Kulczyk, die in Susch das Muzeum gestiftet hat und auch für seinen Betrieb aufkommt. Bei der alten Brauerei neben der Kirche haben die Architekten Schmidlin und Voellmy ein imposantes Ensemble an den Hang und in den Berg gebaut. Hier stellt die polnische Unternehmerin ihre Sammlung zeitgenössischer Kunst aus – vorab gemacht von Frauen. Werner Huber wird die Architektur dieses Ortes der Kunst in der April-Ausgabe von Hochparterre würdigen.

Kunst und Kapital

Die «Polin» wie sie talauf talab genannt wird, sei steinreich und habe ihr Geld mit Einkaufszentren verdient. Joseph Beuys hat uns ja beigebracht, wie in der Kunst finanzielles und kulturelles Kapital einander verpflichtet sind. Diese Verpflichtung hat im Engadin mittlerweile Tradition. Ihr Ort ist in den Häusern und Wohnungen, die ihresgleichen im Oberengadin als Feriensitze zu halten pflegen. Hochkarätige Kunst hängt in den Stuben und zu Gemächern umgebauten Sulèrs. Ist man da über Neujahr oder im Februar besucht man sich, man tauscht, man handelt. Hochkarätige Galerien liessen sich in St. Moritz mit einer Filiale nieder – Hauser & Wirth, Vito Schnabel, Caratsch, Stefan Hildebrandt, Robilant & Voena oder Karsten Greve. In Zuoz haben schon vor 20 Jahren der kürzlich verstorbene Kunstsammler Ruedi Tschudi und Elsbeth Bisig ihre Galerie eingerichtet, ein paar Jahre später folgte Monica de Cardenas, die wie Tschudi ihre Galerie in ein altes Engadiner Haus baute – beide Orte hergerichtet vom Architekten Hansjörg Ruch, selber einer der bedeutenden Kenner und Sammler zeitgenössische Kunst aus Graubünden. 

In der Mitte ihrer Chordecke thront der Heiland. Er hat drei Gesichter, drei Frisuren, drei Nasen, drei Münder und vier Augen. (Bild: von Jaromir Kreiliger)

Die Kirche St.Georg

Mein liebstes Kunsthaus im Engadin aber ist die Kirche Lavin. In der Mitte ihrer Chordecke thront der Heiland. Er hat drei Gesichter, drei Frisuren, drei Nasen, drei Münder und vier Augen. Der Wandermaler hat ihm um 1500 die riesigen Füsse so gezeichnet als wolle er, dass sein Heiland ein Schwimmer würde. Um ihn herum sitzen die vier Evangelisten, ihre Symbole tanzen lassend – Feuer, Wasser, Luft und Erde besänftigen einen Engelschwarm. Wir sehen die Kirchenväter Gregor, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus selig lächeln, auch die Apostel und das Schweisstuch Jesus dürfen nicht fehlen und die zehn Jungfrauen erinnern an ihr Schicksal. Dramatisch wird die Geschichte von Georg aufgeführt – Lavins Schutzheiligem. Er wird an einem Baum aufgehängt, dann gerädert und schliesslich mit Blei abgefüllt – dennoch verleugnet er den Herrn nicht. Auch die zwei Bischöfe, die die Malerei spendiert haben, haben ihre Porträts im Bild. Was ist das Mosaik von Giotto mit seiner Majestas Domini in der Kuppel des Babtisteriums im Dom Santa Maria von Florenz gegen den Heiland von Lavin? Was die Grosskunst im Muzeum und anderswo am Inn, gegen die Geschichte der Bilderwelt am katholischen Himmel von Lavin?
Ich sass gestern unter ihm. Mit etwas Schielen konnte ich die vier Augen von Majestas Domini so übereinander legen, dass der Heiland gütig aus zwei Augen auf mich herabschaute, aus nur mehr einer statt drei Nasen schnaufte und aus einem Mund nur sprach: «Den Teppich für die Kunst aber haben WIR vor langer Zeit schon durchs Tal gelegt.»

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