«Gib es die Wohnungstür noch in 30 Jahren?», fragte Andreas Hofer (rechts) in die Runde: Luca Selva, Marianne Dutli Derron, Axel Simon und Ingrid Feigl horchen auf. (v.l.n.r.) Fotos: Aladin Klieber

Familienwohnung und Experimentierstube

Am Städtebaustammtisch von Hochparterre und Wohnbaugenossenschaften Zürich diskutierten Experten über die ideale Genossenschaftswohnung.

Seit über zehn Jahren tüfteln Architekten und Genossenschaften in Zürich an neuen Wohnformen. Am Städtebaustammtisch von Hochparterre und Wohnbaugenossenschaften Zürich blickten Experten zurück und nach vorne. Die Podiumsdiskussion im Museum für Gestaltung stiess auf grosses Interesse. In seinem Einstiegsreferat zeigte Hochparterre-Redaktor Axel Simon: An allen Ecke und Enden innovieren die Architekten. Unter dem Preisdruck und dem Minergiediktat werden die Wohnungen dicker und flexibler, aber auch individueller und die öffentlichen Bereiche belebter. Das Wohnbaulabor Zürich sei «europäisch einzigartig», lobte der Basler Architekt Luca Selva. Doch diese Spezialisierung neige zum Exzess, der Aussenblick sei darum zentral. Mehr ausserstädtische Beiträge wünscht sich auch der Projektentwickler Andreas Hofer, meinte aber: «Für auswärtige Architekten ist es fast nicht möglich zu gewinnen.» Die Wettbewerbsvorgaben werden immer rigoroser, wer sie nicht erfüllt, fliegt früh raus. Klare Zielwerte sind laut Hofer bei den Wohnungsgrössen unabdingbar, beim Wohnungs- und Quartiermix sei aber Raum für Experimente. Selva will ohnehin nicht in erster Linie die Wohnung umkrempeln, sondern das ganze Haus mit- und neudenken.

Eigentlich waren sich alle einig. Niemand weiss, wie wir in 50 Jahren wohnen. Gezielte Experimente sind also sinnvoll. Die grosse Frage lautete also: Wie viel Innovation darfs denn sein, Herr und Frau Zürcher? «Die klassische Familienwohnung ist passé», sagte die Psychoanalytikerin Ingrid Feigl. Anders tönt es bei den Genossenschaften: Diese Wohnform würde immer noch stark nachgefragt, meinte Marianne Dutli Derron vom Verband Wohnbaugenossenschaften Zürich. «Die Familienwohnung ist gut und recht, aber wir haben genug davon», sagte Hofer. Er forderte mehr Spielraum für «komplexe Konglomerate» und fragte provokant: «Gibt es die Wohnungstür noch in 30 Jahren?» Hört man sich bei den Genossenschaften um, ist die Antwort wahrscheinlich: Ja. Die Genossenschaften würden sich stark an die traditionelle Wohnung klammern, meinte Dutli Derron: «Clustergrundrisse und Zusatzzimmer gelten schon als progressiv.» Das wunderte Feigl nicht. «Das Wohnen ist existenziell.» Die Welt verändert sich, wenigstens das Zuhause soll etwas Beständigkeit ausstrahlen. Bei den Genossenschaften bestimmen die Mitglieder, was gebaut wird. Sind sie also der falsche Ort, um die Wohnung der Zukunft zu erforschen? Selva relativierte. «Genossenschaften sind immer noch besser als Investoren, die genau wissen, was der Markt will.»

Neue Wohnformen hin oder her: Die Wohnungen wurden auch bei den Genossenschaften grösser. Dutli Derron forderte von ihnen daher mehr Disziplin. Die Architekten ermutigte sie zu neuen Ideen, auch wenn sie dafür das Wettbewerbsprogramm über den Haufen werfen müssen. Mit radikalen Verstössen schaffen es aber die wenigsten in die Ränge. «Der Wettbewerb tendiert zu einer gewissen Trägheit», meinte Selva. Kein idealer Nährboden für Experimente also. Feigl sieht die Architekten ohnehin nicht als Forscher im Labor: «Sie sollen für den Alltag bauen.» Sie ist also skeptisch, wenn die Bewohner wie Laborratten in dunkle Stuben, lange Gänge und Zimmer mit schrägen Wänden geschickt werden. «Die Architekten suchen die Rekorde, das Extreme», gab Hofer zu, mahnte aber: Angesichts der steigenden Flächenverbrauchs seien diese Experimente dringend nötig. «Das ist keine Spielerei, das ist existenziell.»

Hochparterre dankt VELUX für die freundliche Unterstützung des Städtebaustammtisches.

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Kommentare

Markus 26.08.2012 17:59
Man appelliert allenthalben an die Architekten, interessante und innovative Wohnungen zu bauen. Und man verteufelt sie, wenn sies nicht tun. Dabei ist zu 95% der Bauherr/die Bauherrin der-/diejenige, der/die bestimmt, wie innovativ oder wie banal die Wohnungen sein werden. Oder der Immobilien- oder Marketingberater, die kreditgebende Bank mit ihren Kreditvergaberegeln. Spätestens beim Geld hört in der Schweiz die Experimentierfreude auf. Egal was die Wohnungsmieterin darüber denkt, denn die hat nichts zu sagen. Im Zweifelsfall hat die Gesellschaft ja noch den Architekten, den man als Schuldigen beschimpfen kann.
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