Von Milano ins Weltall und zurück
Die weltweit grösste Möbelmesse inszeniert sich jeden Frühling opulent aufs Neue – wir haben vier Schweizer Interventionen aus der Fülle herausgepickt.
Erster Halt: Palazzo Serbelloni am Corso Venezia 16. Atelier Oï war gleich mit sechs Neuheiten im Gepäck in die Domstadt gereist. Am Corso Venezia war ihr Tisch «Serpentine» Teil der «Objets Nomades» von Louis Vuitton. Der Entwurf kombiniert einen Fuss aus Nussbaum mit blauen Lederbändern und einer hundert Kilo schweren runden Glasplatte. «Wir haben dabei an ein Kinderspiel mit Fäden gedacht», sagt Aurel Aebi von Atelier Oï. Nicht wirklich nomadisch. Aber er verweist darauf, dass das Tischgestell komplett zusammenklappbar ist.
Zusammenklappbar wie ein Regenschirm ist auch die Halterung der Leuchte «Vitruvio», die Atelier Oï im Showroom von Artemide am Corso Monforte sowie auf der Euroluce zeigte. Drei Metallstäbe werden in eine runde mundgeblasene Glaskugel eingeführt. «Ein Mechanismus, der aus der Uhrmacherkunst stammt», sagt Armand Louis. Der Entwurf ist erhältlich als Steh- und als Hängeleuchte.
Einen Coup landete Jörg Boner für COR. Erstmals bezog der deutsche Möbelhersteller eine Location in der Brera an der Via Solferino 11. Gleich ein ganzes Apartment wurde eingerichtet mit dem neuen Möbelprogramm «Nenou» des Schweizer Designers. «Wir wollten eigentlich nur einen Sessel haben», sagt COR-Chef Leo Lübke. Das Projekt entwickelte schnell eine Eigendynamik. Herausgekommen sind sechs Möbel, vom hohen Sessel über einen Pouf bis zur grosszügigen Sitzinsel. Die Möbelskulpturen basieren auf der Grundform des Kegels mit verschiedenen Freiformkurven und haben fast radiale Einschnitte in der Mitte, wie bei einem Seerosenblatt. Das ästhetische Gestaltungsdetail, ein Einzug in der Polstermitte, ist nicht nur ästhetisch gelungen, sondern auch funktional, da die leichte Vertiefung der Sitz- und Rückenflächen zu einer komfortablen Sitzposition beiträgt.
Exakt in die Schnittstelle eingepasst sind Tabletts aus Holz, Marmor und Sandstein. «Ich wollte damit eine neue Typologie schaffen», erklärt Boner. «Die blattförmigen Elemente sind bewusst auch unkonventionell zu nutzen. Erst der Kontext definiert die Funktionen und Anwendung.» Wie in der Natur lassen sich aus einzelnen Elementen verschiedene kleinere Inseln bauen. «Immer wieder entstehen neue Topografien», sagt der Designer, «wie bei einem Seerosenteppich oder einer magischen Lichtung im Wald, die von grösseren oder kleineren organischen Skulpturen besiedelt wird.» Schönes und stilbildendes Design ist die sogenannte Fahne, ein abgenähter breiter, umlaufender Stoffrand. Diese Fahnen verleihen den Möbelkörpern eine plastische Wirkung.
Andernorts konnte man in eine andere Welt eintauchen. In den Gewölbebögen des vergrösserten Veranstaltungsorts Ventura Centrale – den verlassenen Lagerhallen unterhalb des Mailänder Hauptbahnhofs – inszenierte Stephan Hürlemann für den Fensterhersteller Sky-Frame «A Piece of Sky». Erstmals in London im vergangenen Herbst an der Clerkenwell Design Week gezeigt, konnten sich nun auch in Mailand die Besucher in den Outer Space katapultieren. «Die Inszenierung soll den Besucher für ein paar Momente den Alltag vergessen lassen», erklärt der Zürcher Designer. Sein Wunsch war es, «ein Stück Himmel auf die Erde zu bringen und in den Kontext von Mailand zu stellen.»
Die Besucher betreten einen dunklen, geschlossenen Raum, der erfüllt ist von einem rauschenden und entfernten Klang, der umso lauter wird, je mehr man sich dem leuchtenden Hexagon nähert. Es ist der Klang der Erde – aufgenommen durch die NASA, die hierfür die durch die Erdrotation erzeugten elektromagnetischen Schwingungen in für das menschliche Ohr hörbare Frequenzen übersetzt hat. Betritt der Besucher dann den sechseckigen Spiegeltrichter, findet er sich plötzlich vor einer gigantischen Kugelsphäre wieder. Die Sphäre leuchtet in hellen Himmelsfarben, welche die Besucher durch das Bedienen einer im Boden integrierten Steuerung ändern können. Eine Entdeckung befindet sich im hinteren Teil des Raums: Dort simulieren Lichtpunkt im dunklen Gewölbe das Entstehen und Vergehen von Sternen im Weltall.
Wo man bei Hürlemann der irdischen Welt für ein paar Minuten entfloh, konnte man sich ein paar Bögen weiter zuvor noch läutern lassen. Die Gebrüder Freitag gaben ihr Debüt in Mailand mit der Inszenierung «Unfluencer – De-sinning the designer». Die Zürcher Taschenhersteller und der Künstler Georg Lendorff luden ein, über Design- und Konsumsünden zu beichten. Zunächst ging es durch eine Video- und Lichtinstallation von Tausenden Fäden, die das Raumgefühl verschwimmen liessen. Dann durfte man eine Nummer ziehen und im Beichtstuhl seine Verfehlungen im Design und Konsum beichten.