«Chair Times» lässt Stühle durch die Zeiten paradieren.

Stühle, satt

Man stelle 125 Stühle in ein leeres Depot und lasse den Sammler, Experten und wenige Expertinnen durch den Raum wandern: Aus dieser Konstellation macht Regisseur Heinz Bütler einen Film für Stuhl-Aficionados.

Der Warenlift öffnet sich, die Kamera folgt den Stühlen, die in den gleissend hellen Raum gefahren werden. Weiss behandschuht stellt Rolf Fehlbaum eine Ikone nach der anderen in den Raum. Konzentriert und ohne Worte. Auf der Tonspur hört man Jazz. Eingeblendete Etiketten nennen Autorschaft, Jahr und Name des Objekts. Am Schluss der sieben Minuten langen Eingangssequenz werden es 125 Stühle sein, die chronologisch und im perfekten Raster aufgereiht sind. «Chair Times» heisst der Film, den Heinz Bütler aus einer einfachen Konstellation machte: 2016, kurz nach Fertigstellung von Herzog & de Meurons Schaudepot auf dem Vitra Campus, ist der Raum leer und weiss. Er bietet eine perfekte Folie, vor welcher der formale Überschuss der Stühle so richtig zur Geltung kommt. Die Exponate stammen aus Rolf Fehlbaums Sammlung, die er seit Anfang der 1980er Jahre begann, um daran zu lernen – und noch ohne zu wissen, dass aus den ersten Ankäufen von Prouvé, Aalto und den Eames eine umfassende Sammlung zum Thema Stuhl werden sollte. Erst im Gehry-Bau, dann zeitweise in Zaha Hadids Feuerwehrstation gezeigt und im unterirdischen Archiv gelagert, wird sie seither im Schaudepot vorgeführt. Allerdings stehen auch da nur rund 400 Exponate zur Schau. Insgesamt zählt die Sammlung nämlich rund 7000 Objekte und 1000 Leuchten; die Archive und Nachlässe von Charles und Ray Eames, Verner Panton, Alexander Girard und anderen steuern weitere rund 100 000 Einheiten bei.

Die Stühle von Eames standen am Anfang von Rolf Fehlbaums Sammlung.
Der Ausschnitt des Ausschnitts verlangt nach Repräsentativität. Fehlbaum setzt sie bei einem modernistischen und autorschaftlich verstandenen Designbegriff an. «Die zentrale Figur des Aufbruchs ist der Designer, der Gestalter. Unsere Sammlung besteht zum überwiegenden Teil aus Entwürfen von Gestaltern, die dem alten Thema Möbel auf neue Art und Weise begegnen wollen und können, weil sie sich nicht an eine traditionelle Herstellungsweise gebunden fühlen», erläutert der Sammler im Begleitbuch zum Film. Weil das zu Beginn der Moderne vor allem Architekten waren, sieht Fehlbaum seine Sammlung als eine «Architektursammlung en miniature». Durch diese Sammlung schreiten in der Folge Gäste, die sich, so die Versuchsanordnung, spontan äussern sollen. Die Kamera erfasst die Stühle, während über sie gesprochen wird. Hella Jongerius mag das Thema Leichtigkeit und erinnert sich an den aufblasbaren Blow, den sie einst als Teenager erhielt. Der ehemalige MAK-Direktor Peter Noever interessiert das Manifest und setzt sich auf Eames' La chaise – trotz Nieten an der Hose, wie Fehlbaum moniert. Arthur Rüegg beschreibt, wie Le Corbusiers Liege LC4 gnadenlos den Schlaf erzwingt und auf der, weil ohne Lehne, die herunterfallenden Arme den Schlafenden wieder wecken. David Chipperfield erfährt erstaunt, dass Hans Coray kein Designer war, und Mateo Kries lobt den anonymen Entwurf eines Klappsessels. Dazwischen geschnitten erklärt der Chairman Emeritus von Vitra an den Miniaturen, was ihn an einzelnen Modellen besonders interessiert.

Mit weissen Handschuhen werden die Ikonen aufgefahren. Hier der Wiggle Side Chair von Frank Gehry.
Der Ritt durch die Geschichte des Designs am Beispiel Stuhl beginnt mit einem leichten Chiavari-Stuhl, der 1807 von Giuseppe Gaetano Descalzi gefertigt wurde. Zusammen mit dem Schinkel zugeschriebenen gusseisernem Sessel – in der Form historistisch, im Material zeitgemäss –, mit Thonets legendärem Massenstuhl aus Bugholz Nummer 14 und Charles Rennie MacIntoshs Argyle Chair, der als Teil eines Gesamtkunstwerks funktioniert, ist das 19. Jahrhundert abgeschlossen. Es folgen die Ikonen der klassischen Moderne, die Fehlbaum besonders interessieren: die ausserordentlichen Entwürfe, die zwischen Genie und Wahnsinn angelegt sind. «Das nur Angemessene», das gut im Markt ankommt und den «Kompromiss zwischen Funktion, Preis, Qualität und Aussehen» schliesst, lande eben nicht zwingend im Museum. Gewagt haben im Rückblick viele vieles. Rietveld die Unbequemlichkeit mit seinem Rot-Blauen Stuhl von 1918, mit dem er die Idee des Sessels auflöst. Die Eames wagen die Grenzüberschreitung zur Kunst mit La Chaise von 1948, Willy Guhl riskiert die Gesundheit mit dem Gartensessel aus Asbest von 1954. Verner Panton fordert die Risikobereitschaft des Produzenten mit dem Panton Chair heraus, den er 1956 bis 1967 entwickelt hat. Die Castiglionis wagen den Regelverstoss mit dem Mezzadro von 1957, der den Traktorsitz als Bürostuhl zweckentfremdet. Fehlbaums Sympathien liegen eher bei Frank Gehrys Beaver Chair aus Wellpappe, dessen Auflösung er fasziniert zusieht, als bei Philippe Starcks La Marie aus Plexiglas, der auf das Massenpublikum zielt. Dazwischen gibt es gute Argumente für jedes Experiment, auch wenn es letztlich scheiterte. Damit wird der Stuhl als Designobjekt installiert, und leider auch das Vorurteil, wonach Designgeschichte am besten am Exempel dieses Objekts geschrieben werden könne. Filmisch trägt zu diesem Eindruck bei, dass äusserst spärlich dokumentarisches Material dazwischen geschnitten wird, etwa die legendäre Werbeaufnahme für den Guhl Gartensessel. Doch stets bleiben die Aussagen auf das Resultat, den Stuhl fokussiert – über den Prozess, bis eine Idee Stuhl wird, erfährt man wenig.

Peter Noever und Rolf Fehlbaum diskutieren das revolutionäre Potenzial des Sacco aus dem Jahr 1968.
Ebenso wenig wird der ökonomische und der gesellschaftliche Kontext erläutert, in dem die Stühle entworfen, entwickelt, gebraucht und rezipiert wurden. Das liegt auch daran, dass die Statements der Experten anekdotisch bleiben. Der Kanon wird befestigt, nicht kritisiert. Als Werkzeug für das Unternehmen wird die Sammlung nicht weiter befragt. Die vorherrschende Haltung ist Adoration, nur selten kommt Diskurs auf. Etwa wenn Vitra-Kuratorin Amélie Klein gegen Ende der Chronologie und des Films eine der digitalen Fertigung angemessene Formsprache vermisst – weder Patrick Jouins Solid C2 noch Dirk Vander Kooijs Endless Flow Rocking Chair können sie in dieser Hinsicht überzeugen. Der Film endet folgerichtig, wie er angefangen hat: mit einer Gesamtschau auf die Sammlung. Schön wars.

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