Valerio Olgiati, gespiegelt in Flimser Stein. Fotos: Yanik Bürkli

Olgiatis reine Baukunst

‹Nicht-Referenzielle Architektur›, so heisst das hellblaue Theoriebüchlein von Valerio Olgiati mit sieben Prinzipien zur Verbesserung des Architektenberufs.

Ein Grundriss des Tempels von Mitla, einer sagenhaften Stadt in Mexiko, muss genügen. Darum herum 125 Seiten Buchstaben, so viele «man an einem Abend – oder vielleicht auch an zweien – lesen kann». Das ist das Buch ‹Nicht-Referenzielle Architektur›, «gedacht von Valerio Olgiati», «geschrieben von Markus Breitschmid». Ein Text «von elementarer Bedeutung für praktizierende Architekten», für die «Ideen gleichsam ausgesät werden – die Samen werden in deren Köpfen und Händen gedeihen». Der Sämann aus Flims sät seine Theorie in einem handlichen Buch aus, gestaltet von Dino Simonett, Bruno Margreth und ihm selbst. Das Cover, kostbar aus hellblauem Leinen, Titel, Autoren in weissem Prägedruck. Der Satz in der ‹RH Inter Pro Regular›, einer angenehm lesbaren, serifenlosen Schrift des Typografen Robert Huber. Sie fasst die Buchstaben in einen Block, dessen Mikrotypografie nachlässig gestaltet ist: Der Abstand zwischen den Worten ist unregelmässig, oft zu breit, was nebst der Schönheit des Schriftbilds die Lektüre stört, erstaunlich für das Buch eines Architekten, dessen Häuser bis in die letzte Fuge präzise sind.

Was aber ist ‹nicht-referenzielle Architektur›? Halten wir uns an die Linguistik, so ist der Referent das Denotat, worauf sich ein Zeichen oder eine Zeichenkette bezieht. Also wäre ‹nicht-referenzielle Architektur› wohl eine, die ohne Bezüge auskommt. Aber gewiss ist das nicht. Denn Valerio Olgiati faltet seine Betrachtungen zwar leidenschaftlich, phantasievoll und mit philosophischem Anspruch aus. Aber die Begriffe systematisch darzulegen, wie es der philosophisch Aspirierende im Proseminar übt, überlassen der Denker und sein Schreiber dem Leser. Der soll sich aus dem bunten Strauss von Gedanken, Anregungen und Assoziationen seine Referenten selbst zusammensuchen. So viel aber ist bald klar: ‹Nicht-referenzielle Architektur› weist alle nicht-architektonischen Zumutungen zurück. Sie ist nur aus sich selbst da, um so für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen segensreich zu wirken. Denn weltabgewandt und ignorant ist solche Architektur nicht, aber sie will sich von all der komplizierten Welt nicht am Zeug flicken lassen. Wehe zum Beispiel der Geschichte, die ja landläufig Architektur und Baukultur prägt wie kaum einen anderen Beruf. Sie stört den mit der freien Referenz ringenden Architekten ebenso wie der Bodenleger mit seinen auf Effizienz getrimmten Normen, der Fluchtwege befehlende Feuerpolizist oder der Bauherr mit dem Geldsäckel in der Hand.

 

Nietzsches Schnauz

Eine Referenz ist Valerio Olgiati besonders suspekt, die politische Verwicklung von Architektur. Sie ist also zu reinigen vom öffentlichen Anspruch. Nun ist ja die Ambition von Bauherren und Architekten nach Ein- und Ausdruck durchaus politisch. Auch beeinflusst der öffentliche Anspruch den Entwurf von der Zonenordnung bis zur Energiegesetzgebung vielfältig. Gewiss, Bauen wird umzingelt, gebändigt und homogenisiert. Oft aber will Widerspruch unvernünftiges architektisches Wollen bremsen – es wird zu viel Schmarren gebaut. Darum muss das öffentliche Interesse – verteidigt zum Beispiel vom Heimatschutz – ihn verhindern. Die ‹nicht-referenzielle Architektur› kümmert sich aber weniger um die Analyse des Politischen in der Architektur als um den Furor der Gerechten. Die Theorie hat rührenden Heldenpathos und trotzigen Witz: ich allein mit ein paar Getreuen gegen den Rest der Welt im Unverstand – eine durchaus politische, eine aristokratische, libertär säuselnde Attitüde.

Olgiati zielt denn auch über den Alltagskummer des «praktizierenden Architekten» hinaus, der sich mit Einsprachen herumschlagen muss. Auf seinen Schultern sitzt Friedrich Nietzsche, wackelt mit dem grossen Schnauz und rollt die Augen. Denn an der Zeit ist die ‹nicht-referenzielle Architektur›, weil die Welt grundsätzlich aus den Fugen geraten ist, keine Werte und Orientierungen mehr gelten, alles neu werden muss. Ein zarter Hauch von Verschwörung macht aus dem Anything goes ein Everything flyes. Rossi, Zumthor, Herzog & de Meuron und weitere, zu denen sich Olgiati gesellt, sieht er zwar als Brüder im Geist. Aber keiner ist radikal und schneidig genug, um die Banden zu lösen und der verwirrten Welt mit reiner und nichts als reiner Architektur zu begegnen.

Titelbild

Sieben Prinzipien

Valerio Olgiati hat eine Mission: «Praktizierende Architekten» durchbrecht das Referenzendickicht! Wählt die Freiheit! Folgt den sieben Prinzipien der ‹nicht-referenziellen Architektur›! Die Zahl sieben hat selbstverständlich Referenzen in der Kulturgeschichte: die sieben Weltwunder, die sieben abrahamitischen Weltreligionen, die sieben Zwerge. Für seine glorreichen Sieben schöpft Valerio Olgiati aus seinen Bauten von eindrücklicher Schönheit. Neben der Handvoll gebauter sind es die zahlreichen gezeichneten Projekte, die er jeweils mit einer feinen Nase für Öffentlichkeitsarbeit in Architekturbüchern, Vorträgen und Zeitschriften platziert. Und schliesslich kommt sein Wirken als Lehrer in Amerika und an der Accademia di Architettura in Mendrisio zum Erfahrungsschatz, den er nun in die ‹nicht-referenzielle Architektur› giesst – kurz eine reichhaltige empirische Referenz.

Im Proseminar lernt der Philosoph, dass ein Theoriegebäude geschlossen, widerspruchfrei und explizit zu sein hat. Olgiati sieht das anders. Nur mit Stossen und Drücken kann ich die Argumentationen zur ‹Neuheit› mit denen zur ‹Sinnstiftung› so zu einem halbwegs stabilen Gedankengebäude fügen, dass ich ‹Konstruktion› und ‹Raumerfahrung› passgenau dazu bringe – kurz: Die Reichweiten und die Logiken der sieben Prinzipien sind zu unterschiedlich, ihre Traditionen teils ganz anders.

Das ist nun ja feuilletonistischer Alltag. Doch Valerio Olgiati tritt mit einer Ambition in die Denkerarena, die alles bisher Gedachte in den Schatten stellen soll. Denn das dritte Prinzip, die ‹Neuheit› leuchtet hell – es ist auch das sprachlich am besten geratene Kapitel. Feurig redet er dafür, dass nur das vom Architekten erfundene ‹Neue› die Menschen anregen, ihnen Sinn stiften und für sie eine gute Welt herstellen kann. Nur der für ‹Neuheit› begabte Architekt kann die Zeichen der Weltumbrüche lesen und darauf mit noch nie Dagewesenem reagieren. Folgerichtig weist er die ‹analoge Architektur› von sich, so wie er «jede thematische Aufladung» des Entwurfs «banal und langweilig» findet. Nur – die Leidenschaft für das ‹Neue› ist keineswegs referenzlos, es war die Ideologie der Moderne schlechthin. Das ‹Neue› hat viel zur Zerstörung von Landschaften, Städten und Dörfern beigetragen, etwas Demut vor Geschichte, Ort und Langeweile täte ihm durchaus gut.

 

Olgiatis Eckermann

Am Schluss des Buches wirft sich Valerio Olgiati mit schmetterndem Pathos gegen die Veränderung des Architektenberufes. Der Schiffskapitän ist zum Reedereiangestellten geworden, der sich als einer unter andern in einer wachsenden Mannschaft um den Kurs kümmert. Doch so leidenschaftlich die Worte für ein neues Berufsbild sind, so schwach ist die Analyse, warum der Architekt in einem Kollektiv des Entwurfs verschwunden ist. Darum ist auch Zukunftsrat teuer. Abkoppelung von Gesellschaft und Geschichte, Hoffnung auf das einsame Genie stimmen mich da kaum zuversichtlich.

Auch eine heitere Ironie darf nicht fehlen: Valerio Olgiati lehnt dezidiert jede doppelte oder gar kollektive Autorschaft ab. Sein Buch aber ist ‹gedacht› von ihm und ‹geschrieben› von Markus Breitschmid, einem langjährigen Weggefährten und Professor für die Theorie der Architektur. Natürlich würde solche Zweisamkeit noch eine Reihe referenzieller Fragen aufwerfen, ist doch die Einheit von Denken und Schreiben seit Plato und Aristoteles Brauch und Sitte. Doch lassen wir das – wie Goethe seinen Eckermann hatte, so hat Olgiati seinen Breitschmid.

 

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 10/2018 der Zeitschrift Hochparterre.

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Kommentare

ALBI 06.11.2018 18:03
Souverän und gehaltvoll, Dein Umgang mit dem Unsäglichen, das Dir anscheinend in diesem Buch entgegenkommt. Valerio wird nicht froh sein, denke ich, aber er darf sich sehr gründlich gelesen fühlen und das wiederum müsste ihn denn doch noch froh machen! Mir wird in allen Fragen des Schreibens immer endgültiger klar: Man kommt doch am weitesten mit seinen Schreibereien, wenn man so ausschließlich wie möglich, das heißt ganz absolut und ohne abzuweichen bei sich und nur bei sich selber bleibt. Also nicht 'man' und keine Theorien, sondern in aller Fragmentiertheit möglichst nur ich, in seinem Fall wäre das Ich dann eben Valerio Olgiati, in meinem ist es Albert Vinzens, in Deinem Köbi Gantenbein etc. Ich habe nach Deinem Kommentar eigentlich Lust, das Buch zu lesen - so gut hast Du darüber geschrieben! - Lieben Gruß, Albi
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