Produkt eines langen Prozesses: Neubau an der Hellmutstrasse in Zürich-Aussersihl. Rechts oben der 1991 bezogene Entwurf von Walter Ramseier. Fotos: Guillaume Musset

Die ‹Hellmi›-Saga

Haben wir nicht genug gelesen über die Zürcher Achtzigerjahre und seine Wohnexperimente? Trotzdem lesen! Denn hier schreibt der «Barfusshistoriker» Hannes Lindenmeyer. Und spricht am Dienstag über sein Buch.

Schon wieder ‹Wo-wo-Wonige!›? Haben wir nicht schon genug gelesen über die bewegten Achtzigerjahre in Zürich, über ihre Häuserkämpfe und wie eine Generation später aus dem Schutt progressive Genossenschaften und neue Wohnformen keimten? Und dann ist auch noch der Satzspiegel der Seiten schief – aus dem Lot, wie die damaligen Zeiten? Trotzdem lesen! Hier schreibt einer der alten Barrikadenkämpfer, farbig und detailreich. Hannes Lindenmeyer versteht sich als «Barfusshistoriker». Er sucht die grosse Geschichte in den kleinen Geschichten. Und dort, wo er steht: Seit Mitte der Siebzigerjahre lebt der Autor an der Hellmutstrasse im Zürcher Kreis 4, in der ‹Hellmi›. Und obwohl diese Strasse nur achtzig Meter kurz ist, gelingt ihm das Kunststück, die Geschichte des gesamten Quartiers Revue passieren zu lassen.

Wie damals: Der Satzspiegel ist etwas aus dem Lot.

Vom Ende der Eiszeit führt uns Lindenmeyer bis zur gesellschaftlichen Eiszeit, deren Tauwetter 1980 im einstigen Arbeiterquartier kulminierte. Dazwischen: Alemannengräber, Jenische und Ostjuden, und viele, viele Italiener, die hier im 19. Jahrhundert in einem regelrechten Slum hausten. Beim ‹Italienerkrawall› entluden sich 1896 die Gemüter der Schweizer Arbeiter, was zur Reformierung des Quartiers, zur grünen Bäckeranlage und zum roten Volkshaus führte. Leichtfüssig hüpft der Autor zwischen den Epochen hin und her. Warum ist die vorderste Reihe der Bodenplatten seines Wohnzimmers schräg angeschnitten? Der Neubau steht, «wie seit den Alemannen die Bauern ihre Pflugscharen gezogen haben: schiefwinklig zu den Feldwegen». Über den Feldweg namens Hohlstrasse zogen die Römer in ihre Schlachten. Aber nicht mit einer Schlacht, sondern mit einem Fest stoppten die ‹Hellmi›-Bewohner 1979 den Durchgangsverkehr dauerhaft.

Das Buch ist ungewöhnlich gebunden.

Nie geht es im Buch um abstrakte Geschichte oder Politik. Immer geht es um Menschen. Um Erwin, den Schrottsammler, oder Trixi, die Dirne. Der heutige Gastrokönig Koni Frei war ein ‹Hellmi›-Aktivist, auch Herr und Frau Müller, die mit ihrer Talkshow-Performance das Schweizer Fernsehen blamierten. Hier wurde der Getränkehändler Intercomestibles gegründet und gab die Kultband Baby Jail ihr erstes Konzert. Schön bekommen wir Nachgeborenen die Befindlichkeiten der ‹revolutionären Gruppen› erklärt: Wie unterscheidet man einen Maoisten von einem Trotzkisten? Worüber stritten Radikale und Realos? Letztere, darunter Hannes Lindenmeyer, gewannen den Kampf um die ‹Hellmi›. Zusammen mit der jungen Wogeno bauten sie 1991 einen Neubau. Und zeigten: Die Mieterkampfszene lässt sich befrieden.

Schon auf dem Cover: eines der zahlreichen fotografischen Zeitdokumente.

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