Seit 30 Jahren beschäftigen sich Luca Selva Architekten mit dem Kammergrundriss in ihren Entwürfen und mit seiner Geschichte. Nun haben sie ein Buch zum Thema herausgegeben.

Der Kammergrundriss

So etwas darf man nicht, ein gefangenes Zimmer entwerfen. Doch Luca Selva Architekten tun genau dies mit Hartnäckigkeit. Ihre Kammergrundrisse zeigen wie ein altes Konzept auch für neue Probleme taugt.  

Das Fach heisst Grundrisskunde. Darin sind wir stark hierzulande. Der Erfolg der «Grundrissfibel» beweist es. Doch in diesem Sammelwerk fehlt etwas, der Kammergrundriss. Dabei ist er der älteste in der Familie. Auf Seite 2 von «Über Raum und Räume» schon leuchtet er uns in Ḉatal Höyük entgegen und wir lernen, dass der Grundriss ohne Korridor am radikalsten gelingt, wenn man das Haus vom Dach her betritt. Darum geht es nämlich, einen Grundriss zu entwickeln, der die Räume direkt verbindet, nicht durch einen Korridor erschliesst. Zwei Beispiele: Der Palazzo Antonini in Udine von Palladio (S.50), wo selbst die Toiletten Durchgangsräume sind und, viel bescheidener, der Typ B aus «Sozialer Wohnungs- und Siedlungsbau» herausgegeben vom Delegierten für Arbeitsbeschaffung 1944 (S. 80). In den Architektenjargon übersetzt, heisst der Kammergrundriss «das gefangene Zimmer».  Vom Wohnungseingang kommt man nicht ungesehen ins eigene Zimmer, weil man ein anderes durchqueren muss.


Das ist eine architektonische Todsünde. Luca Selva Architekten begehen sie kaltblütig, genauer mit Forschergeist. Seit 30 Jahren beschäftigen sie sich mit dem Kammergrundriss in ihren Entwürfen und mit seiner Geschichte. Er gründet auf der konstruktiven Logik der vernünftigen Spannweite, was einen Raum (Kammer) von so 5 x 5 Metern ergibt. Mehrere dieser Räume nebeneinander gefügt ergeben einen ungerichteten und unhierarchischen Grundriss, was auch heisst, er ist flexibel beim Bau und im Gebrauch. Flächensparend ist er auch noch. Wer die Scheuklappen auszieht, die den Blick auf die Sünde gefangenes Zimmer einschränken, entdeckt, was der Kammergrundriss ist und kann. Die Kammern werden in Schichten nebeneinander gereiht, was sehr kompakte, flächensparende Packungen ergibt. Das Licht wir mit eingezogenen Loggias in die Haustiefe gebracht. Das sieht auf dem Plan eher düster aus, ist aber, die Bilder beweisen es, kein Problem. Die ähnlich grossen Kammern werden in der Diagonale erlebt, wenn der Architekt die Türen und Fester richtig setzt. Es geht um Raumbezüge. Zusammenfassend: Meinte ich bisher, an Grundrissen schon (fast) alles gesehen zu haben, so lernte ich viel dazu. Ich hielt eine ganze Grundrissfamilie für versunken, sprich, überholt und hier kommt sie frisch und munter wieder an die Oberfläche.


Der Mitherausgeber Christoph Wieser befragt Luca Selva und Patrick Gmür, wie es ihnen so mit dem Entwerfen geht. Zwei Praktiker schildern ihren Wohnungsbau. Daraus einige starke Sätze von Gmür: «Ich finde, die Flexibilität wird überschätzt.» oder «Wo früher das Sofa stand, steht jetzt das Rennvelo.» oder «Seit wir keinen Fernseher mehr haben, brauchen wir das Wohnzimmer nicht mehr.» Selvas Starksätze: «Als ich das meinen Kölner Kollegen von BDA vorgestellt habe, meinten sie, das seien die Altbauten. Das war für uns ein Kompliment, weil wir damit aufzeigen, wie man einen Bezug zum Vorhandenen schafft, der das Neue nicht vom Alten abkoppelt.» oder «Wir konnten mit eingezogenen Loggien das Licht sehr gut in die Wohnung bringen.» oder «Die Frage ist immer, wo hast du eine ΄gute΄ Wand? Wo hängt das Bild, wo steht das Möbel?»      

  
Eines allerdings ging mir auf den Nerv. Ein schön gemachtes Buch über Grundrisse erschwert das Lesen eben dieser Grundrisse. Ich bin einverstanden, dass die Plangrafik die Kammern und ihre Reihung betont, wenn sie mir aber Rätsel aufgibt, lege ich das Buch beiseite. Es sind verschachtelte Wege, die ich gehen muss, warum nimmt mich nie ein Eingangspfeil bei der Hand? Warum sind die Sanitärräume leer, warum die Küchen minimal angedeutet, wie finde ich mich mit den Treppen zurecht, wo geht’s hoch, wo runter? In welchem Geschoss bin ich?  Kurz, die Plangrafik genügt sich selbst, sie will nicht, dass ich die Pläne entschlüssle. Das in einem Buch im Fach Grundrisskunde.


Als Schlussbouquet der Salisbury Wing der National Gallery in London von Venturi/Scott Brown (S. 74). Als ich dort war, war ich war hingerissen.  Ich lernte, dass der Kammergrundriss am radikalsten gelingt, wenn das Licht von oben kommt.

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