Die Broschüre empfiehlt ein Weniger an Verschwendung und ein Mehr an Zusammenleben. Der Stadtwanderer empfiehlt sie dem Stadt- und Gemeinderat von Chur zur eifrigen Lektüre.

Wie wenig ist genug?

Die Zeiten der fröhlichen Verschwendung sind vorüber. Was aber heisst das konkret? In Chur hat es der Bündner Heimatschutz am Beispiel einer Wiese klar gemacht. Benedikt Loderer hat die Broschüre dazu gelesen.

In Masans, einst ein Bauerndorf zwei Kilometer rheinabwärts von Chur gelegen, heute der Agglomerationsrand der Stadt, ist eine fast 40 000 Quadratmeter grosse Wiese frei. Ruggenbrecher ihr Flurname. Sie gehört der Stadt und schreit: Bauerwartungsland! Man kann diesen Schrei verschieden hören. Den einen tönt er wie Steuersubstrat, sprich Hüslihalde, pardon Landhauszone. Andere fragen sich: «Wie würde eine Überbauung aussehen, wäre sie konsequent von den grössten Herausforderungen der Gegenwart, der Klima- und der Biodiversitätskrise her gedacht?» Die einen gehören zur FdP, der Fédération des Profiteurs, die andern sind der Bündner Heimatschutz.

In Ludmilla Seiferts Küche haben sie sich für eine Ausstellung und eine Publikation zusammengerottet. Sie ist die Geschäftsführerin des Bündner Heimatschutzes. Am Suppentisch sassen Rita Illien, Werner Binotto und Köbi Gantenbein. Zur gutartigen Verschwörung stiessen später noch Christoph Schläppi, Raimund Rodewald, Patrick Schoeck-Ritschard, Christina Schumacher und Patrick Gartmann dazu. Da ist viel Gehirnschmalz vereinigt. 

Der Blick der Verschwörer schweift zuerst vom Berge der Erkenntnis hinab ins Tal der Tränen. Was wir alle wissen, aber tunlichst verdrängen, wird in einer einzigen Frage zusammengefasst: Wie wenig ist genug? Wir Westler leben alle über unserem Fussabdruck und die, die die Heimat schützen, stellen fest: «Wenn wir eine Zuversicht haben wollen, müssen die Reichen dieser Welt den Gürtel enger schnallen?» Gewiss, murrt da der Stadtwanderer, was aber hat das mit der freien Wiese zu tun? Antwort: «Der Bündner Heimatschutz verlangt vom Churer Stadt- und Gemeinderat, den Ruggenbrecher nicht verstückelt einer beliebigen Überbauung zu opfern.»

Ja, aber was denn? Das Denken von der Klima- und Biodiversitätskrise her erfordert ein neu ausgerichtetes Bauprogramm. Das beginnt mit dem Erhalten der vorhandenen Bauten, fährt fort mit der Stellung der Neubauten am Rand, damit dazwischen ein Grünraum inklusive urbaner Wildnis entsteht, Ruggenbrecher ist selbstverständlich autofrei, durchmischt und gehorcht der 15-Minuten-Stadt. Die Wohnflächen pro Nase werden herabgesetzt, denn «die Einschränkung der Wohnbedürfnisse gehört zu den wichtigsten Forderungen eines ressourcen- und energieschonenden Lebensstils». Dass die Konstruktion der bis zu sechs Geschosse hohen Gebäude ökologisch haltbar, solid und schön wird, setzt der Heimatschutz voraus, Wiederverwendung inklusive. Dass eine Wohnbaugenossenschaft gegründet wird, ist klar, denn der Ruggenbrecher soll der Spekulation entzogen werden. Darüber hinaus entsteht ein lebendiges Quartier. 800 Leute sollen da wohnen und arbeiten.

Alle diese Forderungen haben die Leute vom Studio Bisig Rocchelli zusammen mit dem Büro scanArc umgesetzt. Ich rieb mir die Augen. Da sind Architektenpläne entstanden, die die uralte Technik des Aquarells und der Handzeichnung wieder aufleben lassen! Die Grundrisse erinnern mich an die Nachkriegszeit, als man im zerbombten Europa sich nach der Decke strecken musste. Sie gehorchen dem Grundsatz: Was braucht es wirklich? Mehr als im Ruggenbrecher vorgeschlagen nicht.

Es ist eine Probe aufs Exempel, keine akademische Übung. Die Wirklichkeit beisst zu. Vorgeführt wird, was uns blüht. Ein Weniger an Verschwendung und ein Mehr an Zusammenleben. Ich empfehle dem Stadt- und Gemeinderat von Chur diese Broschüre zur eifrigen Lektüre, exempla docent. Der Ruggenbrecher ist zu wertvoll, dass man ihn der Fédération des Profiteurs überlassen darf.

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