Vitruvs ferne Kinder
Denkt Benedikt Loderer an Amerika, denkt er an Wolkenkratzer. Nun hat der Stadtwanderer Baldur Kösters Buch «Palladio in Amerika» gelesen. Warum? Weil Klassizismus der amerikanische Nationalstil ist.
Als ich 1975 in Kentucky studierte, fragte man mich: A traditional or a modern architect? Das schien mir absurd, modern wollte ich sein, selbstverständlich! Da fällt mir so 50 Jahre später ein Buch in die Hände «Palladio in Amerika» und nach der Lektüre scheint mir die Frage keineswegs mehr so absurd. Warum? Weil offensichtlich die traditionelle Architektur, die klassizistische ist und die ist in den Vereinigten Staaten bis heute noch quicklebendig.
Was aber ist Klassizismus? Das beginnt bei Vitruv, seine 10 Bücher sind die Bibel der klassizistischen Architekten. Vitruv schreibt die Ausgewogenheit vor, ein Modulor, der Säulendurchmesser, ordnet die Proportionen des Baus, setzt alle Bauglieder in ein ausgewogenes Verhältnis. Wichtig ist die Dreiteiligkeit im Grund-, wie im Aufriss: Mittelbau und zwei Flügel oder Sockel, Schaft, Kapitell. Es folgen Symmetrie, Säulenordnung, Gesimse, Dreieckgiebel und so weiter. Die aufgeweckte Leserin kann ja den alten Genieoberst L. Vitruvius Polio hervorziehen und sein Baureglement wiedermal studieren.
Klar, den Klassizismus haben die Engländer nach Amerika gebracht. Dort bauten sie im Colonial Style, eine Variante dessen, was in England Mode war, allerdings, reduzierter, bescheidener, die Kolonie war erst im Aufbau, die Mittel beschränkt. Das um 1720 erbaute Williamsburg VR ist das von John D. Rockefeller restaurierte Vorzeigebeispiel. Es folgt der Federal Style, Hauptarchitekt war Thomas Jefferson mit seiner University of Virginia und seinem Aristokratensitz Monticello. Weiter geht’s mit Greek Revival, das bis heute andauert. Wir kennen aus den Filmen die Herrenhäuser des Südens mit ihren mächtigen Säulen. Was wie Marmor aussieht, ist aus Holz. Es sind die Bilder des amerikanische Heimatstils ergänzt durch das Gegenstück die Ranch. Bis 1950 sind in keinem anderen Land so viele klassizistische Bauten entstanden wie in den USA. Für Jefferson und seine Nachfahren waren sie griechisch-römisch, sprich republikanisch. Schreibt der Architekturhistoriker: «Die Amerikaner kennen diese Schmuckformen in erster Linie nur aus ihrer eigenen kurzen Geschichte; sie kämen nie auf den Gedanken, Vorstellungen von Tyrannei oder Diktatur mit ihnen zu verbinden.» Es stellt sich heraus, dass der Titel «Palladio in Amerika» etwas bauernfängerisch ist, Klassizismus wäre treffender, doch der Name Palladio fördert den Absatz.
Die Moderne kam erst mit den Emigranten von Deutschland nach Amerika, erst ab 1933 ist die Frage möglich traditional or modern? Auch Hochhäuser und Wolkenkratzer versuchen, sich ein klassizistisches Gewand überzustreifen. Andersherum, die Moderne war ein Minderheitenprogramm. Mit der Postmodernen wurde der Klassizismus, selbst ironisch verfremdet, wieder gang und gäbe, jede Bankfiliale hat einen Säulenportikus. J. Paul Getty baut ganz selbstverständlich ein Museum nach römischem Vorbild. Ein wissenschaftlich wasserdichter Archäologe und Architekturhistoriker sorgt für die Stilreinheit. Fazit: Es «ist bewiesen, dass auch im ausgehenden 20. Jahrhundert mit kostbarsten historischen Formen schöpferisch umgegangen und neugestaltet werden kann.»
In mir tauchte auf, was ich verdrängt hatte: Den Überhang an Klassizismus, den ich damals durch meine Schweizerbrille nicht sehen wollte. Neu dazu lernte ich das Unterscheiden. Greek Revival dauert zwar schon 200 Jahre, ist aber vielschichtig. Man muss genau hinsehen. Ein Stil ist eine Grundströmung mit Wellen an der Oberfläche. Deren Unterschiede zeichnen die Entwicklung nach. Darum ist dieses Buch eine Sehschule, sie unterrichtet Differenzkunde.
Baldur Köster der Autor ist offensichtlich ein Verehrer des Klassizismus, ein Arrièrist in europäischen Augen. Doch muss ich ihm Recht geben: Klassizismus ist eine universale Architektursprache. Er untersuchte ihren amerikanischen Dialekt.
Köster, Baldur: Palladio in Amerika. Die Kontinuität klassizistischen Bauens in den USA. Prestel-Verlag, München 1990. Gekauft für 15 Franken im Antiquariat Lüchinger St. Gallen.