Nachhaltigkeit vorindustriell
Benedikt Loderer hat «Wir konnten auch anders» gelesen. Im Buch zeigt die Wirtschaftshistorikerin Annette Kehnel, wie die Menschen im Mittelalter avant la lettre nachhaltig waren.
Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit versprach mir der Verlag, gelesen habe ich einen Strauss von Fallstudien. Ihr gemeinsames Thema ist die Beschränkung. Wie wirtschaftet man erfolgreich, wenn das, was man hat, sich nicht vermehren lässt? Es geht um vorindustrielle Wirtschaftskunde in diesem Buch. Auch die Argumentation ist ökonomisch ausgerichtet, der Blick geht durch die Brille einer Wirtschaftshistorikerin.
Das Buch beginnt mit der Klage und deren Korrektur. Das Mittelalter ist nicht finster, sondern halbschattig. Sicher gab es Ausbeutung, Aberglauben und frühen Tod. Doch zu Tode geschuftet haben sie sich nicht. Es ging gemächlicher zu. In der Diözese Oxford zum Beispiel gab es zu den Sonntagen noch 40 Festtage. Erst die Reformation hat mit dem mittelalterlichen Schlendrian aufgeräumt.
Das erste Beispiel eines nachhaltigen Wirtschaftens sind die Klöster. Teilen macht reich. Im Kloster wird eine Sharing Economy betrieben. Der einzelne Mönch ist arm, gemeinsam aber sind sie reich. Der homo cooperans von 1300 ist erfolgreicher als der homo oeconomicus von 2020. Das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl waren im Gleichgewicht. Die Klöster wurden zu sehr erfolgreichen Produktions- und Verbrauchergemeinschaften und zu finanziellen Grossunternehmen. Dass das Klostervermögen nicht vererbt wurde, also in der Firma blieb, verschweigt die Historikerin Annette Kehnel allerdings.
Nächstes Beispiel: Die Bodenseefischer. Von 1350 bis 1900 nutzten sie den See und die Fischgründe als Allmend. Sie setzten sich Grenzen, überfischten bewusst den See nie. Nicht aus umweltschützerischen Gründen, sondern weil sie an ihre Nachkommen dachten. Ohne zu wissen, was das ist, haben sie die umweltpolitischen Zusatzkosten bereits im Vorfeld internalisiert.
Es folgen die Beginen. Die in Gemeinschaft lebenden Frauen genossen mehr persönliche Freiheit als ihre verheirateten Schwestern. Auch die Beginen waren wirtschaftlich erfolgreich, zum Beispiel als Finanzexpertinnen. Die Sharing Community gibt Sicherheit und ermöglicht Selbstverwirklichung.
Abfall gab es keinen im Mittelalter, es gab aber Verwertung. Dargestellt am Beispiel des Papiers, das aus Hadern, Gewebeabfällen also, hergestellt wurde. Der Hudilumper sammelte sie ein, die Hammermühle zerrieb sie. Alte, ausgetragene Kleider waren etwas wert. Andersherum, nur im Überfluss entsteht Abfall. Dass man die römischen Bausteine für mittelalterliche Bauten wiederverwendete, wissen die Architekten.
Kehnel wirft einen ganz neuen Blick auf den Ablass, «eine mittelalterliche Form des crowd-founding». Nur ein Teil des Geldes ging nach Rom, mehr wurde für lokale Zwecke eingesetzt. Kirchen, Strassen, Brücken, Deiche, Waisenhäuser, Gefangenenfreikauf – Ablass ist ein Finanzinstrument der lokalen Wirtschaftsbosse.
Nun zu den Kleinkrediten, genauer dem Monti di Pietà. Das waren nicht einfach Pfandleihhäuser, sondern die Banken des kleinen Mannes. Die versetzbaren Gegenstände waren Rücklagen für Notfälle. Man konnte ein Kleid gegen Geld tauschen und später wieder auslösen. Nicht die Ärmsten waren die Kunden der Monti di Pietà, sondern die Normalbürger. Dieses Kreditsystem nennt Kehnel Moral Economy. «Die mittelalterlichen Gesellschaften hatten ein ausgeprägtes Interesse an der Schaffung und dem Erhalt der Marktteilnahme für alle.»
Selbstverständlich wird auch das franziskanische Armutsideal behandelt, ein Abstecher zu Diogenes in seinem Fass inklusive. Freiwillig arm, das scheint uns heute bizarr, im Mittelalter hingegen waren die Bettelorden eine mächtige Bewegung. Weniger ist mehr, waren sie überzeugt und lebten danach. Ein Franziskaner, Luca Pacioli, war der Erfinder der doppelten Buchhaltung. Der arme Mönch verstand etwas vom Reichtum. Die Bedürfnislosigkeit als Tor zur Freiheit zu verstehen, ist uns fern. Doch wer heute im goldenen Käfig der Hypothekarschulden sitzt und jeden Tag im Hamsterrad, ahnt davon etwas. Mehr ist schwer.
Und jetzt? Kooperation mache glücklicher als Eigennutz. Nötig sei der Umbau der Kurzfrist- in eine Langfristökonomie. Einverstanden, doch alle die beherzigenswerten Beispiele sind vorindustriell, sprich die Rechnung ist ohne das Öl gemacht. Unser heutiges Wirtschaften funktioniert nur wegen und mit der billigen Energie. Grenzen setzten, selbstverständlich. Wer aber ist bereit, zu verzichten?
Das Mittelalter hatte Grenzen: Menschen- und Tierkraft, Wind und Wasser von allem eine beschränkte Menge. Die Nachhaltigkeit, die Kehnel da entdeckt, war das kluge Management der Ressourcen, eine Überlebensstrategie zu Zeiten des relativen Mangels. Davon sind wir weit entfernt. Jede Steckdose beweist es, jeder Automotor röhrt es uns entgegen, jeder Supermarkt verkörpert es.
Nach der Lektüre blieb ich unbefriedigt zurück. Die Nutzanwendung auf unsere Probleme ist so dünn. Ich fand in der «kurzen Geschichte der Nachhaltigkeit» eine wissenswerte Beispielsammlung, Geschichten, nicht Geschichte.
PS. Fleissig und gründlich ist Frau Kehnel. Ihre Fussnotenflut und ihre tiefgrabende Bibliografie beeindrucken mich, ängstigen mich aber auch.