Lucius’ Urtext
Benedikt Loderer hat den Urtext von «achtung: die Schweiz» gelesen. Was war der Anteil Lucius Burckhardts am Vorschlag, statt einer Landesausstellung eine neue Stadt zu bauen? Das Buch klärt auf.
Der heisse Krieg ist vorbei, der kalte in Betrieb. Die Guisan-Schweiz ist noch intakt, doch eines ist neu: Der Wohlstand brach aus. Die Sparschweiz weicht der Konsumschweiz. Es begann mit dem Staubsauger, dem Kühlschrank und der Waschmaschine für die Hausfrau und dem Automobil für ihn, den Alleinverdiener. Der Fortschritt nahm seinen Lauf, am Ende der Fünfzigerjahre steht das Nationalstrassengesetz. Die Schweiz wird durch das Auto, für das Auto, mit dem Auto grundsätzlich umgebaut. Man nennt das die Zersiedelung. Heute kennen wir die Folgen. Ein Wort nur: Raubbau.
Der Aufstieg ins Konsumland gefiel fast allen, einigen aber wurde gschmuch. Luzius Burckhard, Markus Kutter, Max Frisch und Mitstreiter fragten sich, wohin das führen soll? Sie steckten die Köpfe zusammen und im Januar 1955 erschien die Broschüre «achtung: die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat». Die Tat hiess: Wir bauen eine neue Stadt an Stelle der geplanten, üblichen Landesaustellung 1964. Es war ein Blitz der Intelligenz, den das mächtige Donnergrollen der offiziellen Schweiz erstickte. «Die politische und wirtschaftliche Elite verortete den Text in der kommunistischen Ecke und begrub seine inhaltlichen Anliegen in der Mördergrube des Kalten Krieges.»
Das ist einigermassen bekannt. Die Vorgeschichte hingegen blieb unbeleuchtet, was das hier besprochene Buch nun nachholt. Im Zentrum steht Lucius Burckhardt. Vor allem auf seinen Nachlass greifen die Autoren zurück. Daraus das Hauptstück ist das «Ur-Manuskript» wie es Burckhardt geschrieben hatte. Max Frisch übernahm es für die Schlussredaktion, genauer, spitzte zu, wurde polemischer, liess weg, was ihm nicht diente. Im Text von 1955 weht der Atem des grossen Schriftstellers. Burckhardt war damit eher unglücklich, für den Erfolg des Büchleins (nur 55 Seiten) hingegen, war die polemische Schärfe Treibstoff.
Das Buch aus dem Jahr 2019 zeigt Burckhardts Entwicklung anhand der Entstehung, Wirkung und späterer Selbstkritik der Aktion «achtung: die Schweiz». Hellsichtig war er und nie vom Konsumrausch verblendet. Schon 1949, noch als Student, war er einer der wenigen, die den Irrsinn der Talentlastungsstrasse, einem Durchbruch durch Basels Altstadt, erkannte und sich öffentlich dagegen auflehnte, vergeblich. Er war einer der Ersten, die erkannten, dass die historische Innenstadt nicht für Autos gebaut wurde, diese also autofrei bleiben müsse. Umfahrung, nicht Durchquerung forderte er.
Mir besonders aufgefallen ist der Brief vom 5. September 1956, den Martin Wagner, einst Stadtbaurat in Berlin, nun Professor in Harvard, der «achtung: die Schweiz» aufmerksam gelesen hatte. «Lassen Sie sich von den «Halbstarken» nicht aufs Glatteis führen! Was soll das heissen? Ich will damit sagen, dass Sie gut täten, bei ihrem Planen einer neuen Stadt alle Ciamisten abzuhängen! Dieser Club der gegenseitigen Bewunderer kann dem Ideal-Realen ihres Planes nur schaden!» Die CIAM-Leute fuhren Auto, sie waren es, die die amerikanischen Parkways bewunderten, sie propagierten die Trennung der Funktionen. In der Schweiz wurden damals die Zonenpläne erfunden, sie waren die Gesetz gewordenen Funktionstrennung. Burckhardt war damals schon für die Mischung.
Wie sag ich’s meinem Bürger? Die Behörden projektieren, die Stimmbürger sagen ja oder nein. Stimmbürgerinnen gab es keine. Gegen diese Planung von oben wandte sich Burckhardt. Seiner Meinung nach bestellen die Bürger, was die Fachleute und die Regierung durchführen. Frage: Wer hat die Autobahnen bestellt?
Das letzte Kapitel heisst: Der rückblickende Ausblick. Was sagte Burckhardt eine Generation später? Er ist ernüchtert. «Ich meine, dass das Modell, das wir aufgestellt haben, so nicht geht, denn es war technokratisch und dezisionistisch. (…) In unserer Stadtutopie dachten wir, die Laien stellten die Aufgaben, und die Fachleute bringen die Lösungen.» Das gehe heute (1990) nicht mehr, denn damit sei der Fachmann von jeder politischen Verantwortung befreit. Unterdessen sind es Probleme, «die jetzt auf uns zukommen und nicht mehr Aufgaben. Wir bauen nicht mehr Brücken, um Truppen über den Rhein zu bringen, sondern wir verteilen, minimalisieren oder optimieren Leiden.»
Was ist aus «achtung: die Schweiz» geworden? Es bildete sich die Gesellschaft «Die neue Stadt» mit dem ETH-Professor Ernst Egli an der Spitze. Burckhardts Urteil in einem Brief, der nicht im Buch zu finden ist, war harsch: «Als Frisch, Kutter und ich diese Idee ‘achtung-die schweiz’ veröffentlicht hatten, benütze diese Gruppe um den Geografen Egli die Gelegenheit, um auf unseren Wagen aufzuspringen. Sie produzierten jene Planung, die dann als Sonderheft von ‘Bauen & Wohnen’ erschien. Frisch und ich ergriffen sofort die Flucht; wie Kutter reagierte ist mir nicht mehr präsent. Egli machte mir dann einmal eine beleidigende Bemerkung: nach meiner Meinung würden sie, die Fachleute, alles falsch machen…Was auch der Fall war. Das arme Otelfingen sollte in einen Spaghettisalat von Autobahnzubringern eingewickelt werden und im Innern war dann eine sozialromantische Nachbarschaftsplanung inszeniert. Ein früher Fall von Rinderwahnsinn.»
Lest mehr Burckhardt, Leute!
Ritter, Markus und Schmitz Martin Hg: achtung, die Schweiz. Der Urtext von Lucius Burckhardt über die Idee einer neuen Stadt. Die Geschichte eines Buches von Lucius Burckhardt, Max Frisch & Markus Kutter. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2019. Hier für 26 Franken bei Hochparterre Bücher bestellen.