Lang lebe und blühe der Eklektizismus!, schreibt der Stadtwanderer.

Ein grosser Baumeister

Noch vor 30 Jahren rümpften die Inhaber der Architekturgeschichte die Nase über Fernand Pouillon. Heute sind seine Bauten Wallfahrtsorte. Benedikt Loderer hat Pierre Freys Buch zum Architekten gelesen.

Mit Fernand Pouillon (1912-1986) kann man sich’s einfach machen: Ein Dekorateur. Oder man setzt sich mit ihm auseinander: Eine zweispaltige Figur. Doch noch bevor man sich entscheidet, gilt es festzuhalten: Ein grosser Baumeister.

Gross wird er nach 1944 im Umfeld Auguste Perrets. Er baut in Marseille die Häuser des Vieux Port wieder auf und wichtige Bauten in Südfrankreich. Seine Stunde schlägt mit dem Bürgermeister von Algier, Jaques Chevalier, dem letzten französischen. Der baute im grossen Stil Wohnungen und Pouillon war sein Meisterarchitekt. Das war seine erste algerische Bauzeit, sie endete 1962 mit der Unabhängigkeit. Die zweite begann 1965 und wollte an der algerischen Mittelmeerküste den Massentourismus einführen und ausbauen. Die neue sozialistische Republik braucht Devisen. Doch so zehn Jahre später, nach dem Sturz des Präsidenten Boumédienne wurde der Tourismus zum Opium für das Volk, hinweg damit! Pouillon geht nach Frankreich zurück und baut sich ein Schloss um und aus. 

Beschäftigt man sich mit Pouillon, so muss man sich immer auch mit der französischen Kolonialherrschaft in Algerien und der unabhängigen Nachfolgeregierung auseinandersetzen. Muss feststellen, wie blind die Franzosen waren und wie vernagelt die FLN-Leute. Pouillon ist das Kind beider Welten, de la Métropole et de l’êtat algérien.   

Das ist die Zeit und der Ort des Schauspiels des Buches von Pierre Frey, Bernard Gachet, Louiza Issad und Merhoum Larbi. Sein Titel: Fernand Pouillon le téméraire éclectique – Fernand Pouillon der Furchtlose Eklektiker. Sicher, Mumm hatte er und die Autoren des Buchs ebenso. Sie sind Pouillons getreue Freunde, darum schonen sie ihn nicht. Ich hatte vorher einiges gelesen und habe sogar die Bauten in Marseille und Alger besichtigt, doch blieb ich, der Architekturtourist, an der Oberfläche. Es gibt in Pouillons Leben so viel Anekdotisches, das vom Werk ablenkt! Doch Pierre Frey und die seinen gehen in die Tiefe. Sie schildern nicht noch einmal die wilde Laufbahn, inklusive Flucht aus dem Gefängnis, nein, sie sezieren das Werk. Sicher, der Mann Pouillon ist stets anwesend, doch was steckt hinter den Bauten?

Nicht die spektakulären Grands Ensembles, gebaut in Windeseile mit Naturstein aus der Provence, waren für mich die Entdeckung im Buch, sondern die Bauten für den Tourismus, die unterdessen teilweise schon zerfallen sind. Pouillon schrieb 1966 zu Handen des algerischen Tourismusministers einen «Essay sur une charte du tourisme algérien». Klarsichtiger und gleichzeitig zynischer war keiner seiner Zeitgenossen. Er entwirft das Bauprogramm des Massentourismus: «L’homme moderne s’ennuie dans une société uniforme; il veut que la période de vacance lui apporte l’imprévu et la décourverte.» Zwei Wochen Eskapismus haben wir zugut, jedes Jahr. Dafür kreiert Pouillon eine ‘algerische’ Architektur. Club méditérrané, knurrte ich beim ersten Hinsehen, doch es ist kundengerecht. «Pouillon a remplacé la vérité par l’émotion». Das muss einer können. Aber der unbestechliche Frantz Fanon kommentiert das mit: «La bourgeoisie nationale organise des centre de repos et de délassement, des cures de plaisir à l’intention de la bourgeoisie occidentale.» Ein Satz, der meinen unterstreicht: Der Tourismus ist die Lepra des Erdballs. Es wird nichts beschönigt in diesem Buch, es wird nachgefragt.   

In diesem Weinberg war Pouillon Vorarbeiter. Pouillon hat Jahrgang 12, mein Vater 11. Ich bin beider Sohn. Der des Eklektikers, der das Dogma der Moderne nicht offen ablehnt, aber hinterlistig umgeht. Er ist nicht zu fassen, entwischt den Netzen der Orthodoxie, so wie unser Held dem Gefängnis. Doch auch der des Obersten, der alles richtig und Ordnung haben wollte, keine Halbheit akzeptierte. Das Reglement der Moderne ist Gesetz. Ich bin unterdessen auf Pouillons Seite. Lang lebe und blühe der Eklektizismus!

Ja und da sind noch die Zeichnungen Bernard Gachets. Erst meinte ich, sie seien von Pouillon, doch die Jahreszahlen in der rechten Ecke unten sagten etwas anderes, späteres. Gachet ist ein Zeichnungswanderer, er geht hin, sieht, zeichnet mit architektischem Zitterstrich. Ohne Gachets Zeichnungen wäre das Buch nur eine akademische Übung mehr. Mit ihnen habe ich mich darin festgesogen und bin dabei gewesen, als der Zeichner vor Ort war. 

Architekten, vergesst den Computer, nehmt die Zeichenfeder zur Hand! Lang blühe die Handzeichnung!

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