Das Buch besteht aus Spickzettel, die Vorlesungen, die der Historiker Burckhardt zwischen 1865 und 1885 an der Universität Basel gehalten hatte.

Ein Unbestechlicher

Jacob Burckhardt? Der war einmal auf der Tausendernote, doch in Benedikt Loderers Gedankenhaushalt war er nur eine Legende. Nach einem Fund im eigenen Büchergestell hat Loderer «Historische Fragmente» gelesen.

«Zu Deinem Vergnügen schenke ich Dir mein Lieblingsbuch, in dem ich bis heute immer wieder lese. Ich habe es seinerzeit besonders einbinden lassen, weil es mir so viel bedeutet. Auch habe ich es im Militärdienst oft gebraucht.» Das schrieb mir mein Vater im Dezember 1992, worauf ich die «Historischen Fragmente» Jacob Burckhardts (1818-1897) im Büchergestell einreihte, wo der Privatband 33 Jahre lang auf mich wartete. Doch vor kurzem geriet er mir wieder in die Hände, da las ich das Buch.

Es sind Spickzettel, die Vorlesungen, die der Historiker Burckhardt zwischen 1865 und 1885 an der Universität Basel gehalten hatte. Aus der Masse der Notizen hat sie Emil Dürr ausgewählt und 1929 veröffentlicht. «Gerade das Hingeworfene eines geistvollen Selbstgesprächs vermochte den Leser stärker zu fesseln und tiefer anzuregen als die wohlkompilierte Darstellung eines modernen Handbuches.» (Werner Kägi). Der hohe Ton ist gesetzt, der Leser weilt unter Geistesgrössen.  

Ich verfolgte eine rasende Fahrt durch die Weltgeschichte, hüpfte von Trittstein zu Merkpunkt und war überfordert. Mir fehlte das umfassende Geschichtswissen, das Burckhardt bei seinen Studenten so selbstverständlich voraussetzte. Das, was das humanistische Gymnasium einst in die Köpfe presste. Firefox musste mir helfen. Doch muss, wer ein Panorama betrachtet, nicht jeder Figur den Namen geben können, es geht ums Gesamtbild. Das zeigt das Mittelmeer von Ägypten über Athen, Karthago und Rom und schliesslich das Christentum, das, was Burckhardt als das Fundament Europas und mithin der Welt betrachtete. Darauf stützen sich die germanischen Völker, die das, was Abendland hiess, vollendeten. Es ist ein Bild mit Goldrand, sepiafarbig und bildungsträchtig.

So wie Burckhardt dreinhaut, das würde sich heute kein Geschichtsprofessor mehr erlauben. Er geht hart ins Gericht und zieht den historischen Figuren die Königsmäntel, die Uniformen und die Talare aus. Mit hartem Ruck. Sie stehen nackt vor ihm, der sie be- und verurteilt. Es geht um die Macht, sprich die Herrschaft über Land und Leute. Doch auch um die Religion, die Sitten und die Mentalitäten. Jacob, der Unbestechliche, ist misstrauisch. Den Fortschrittsglauben seiner Zeitgenossen teilt er keineswegs, die Welt wird nicht immer besser. Er verwendet das Wort nie, doch er fürchtet die Pöbelherrschaft. Demokratie endet im Materialismus. 

Ich habe mich noch gefragt, wie das war mit dem Lieblingsbuch. Ich glaube, das liegt an Burckhardts Blick auf die Reformation. «Die enormste Spoliation gegen die Stiftung eines Jahrtausends ging vor sich.» Übersetzung: Reformation ist Kirchenraub. Die Beute zu bewahren, war der wirkliche Kraftstoff der Reformation. Da stimmte mein Vater, der überzeugte Katholik, mit Inbrunst zu. Er hat mir, ohne Burckhardt je zu erwähnen, auf den Erziehungsspaziergängen genau das beigebracht: Kirchenraub. Burckhardt wird zum Zeugen der väterlich-katholischen Ansicht, steht sie doch in seinem Lieblingsbuch. Wofür es militärisch taugte, fragte ich mich nicht mehr.

Und ich, was mach ich damit? Ich las es mit amüsierter Bewunderung. Jacob Burckhardt ist ein belesener Bildungsbürger der feinsten Art, lässt sich nicht beirren, er bleibt kühl und kritisch. Der Hurrapatriotismus seiner Zeitgenossen hat ihn nirgends angekränkelt. Der Imperialismus reisst ihn niemals mit. Darum ist er lesenswert.  

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Kommentare

Andreas Konrad 14.06.2025 23:49
Der hier ein wenig gar verdunstete Blick auf Burckhardt gilt es zu klären: Er war ein «Rich Kid» aus gutem Hause und ausgewiesener Antidemokrat. Er bezeichnete die Juden als «odiose Kerle» und «Judenpack» (Brief an Gottfried Kinkel vom 4. Mai 1847 bzw. an Robert Grüninger am 28. Juli 1887), Wien sei «verjudet» (Brief vom 14. August 1884 an J. J. Oeri-Burckhardt), und schliesslich forderte er offen: «Die Semiten (Juden) werden namentlich ihre völlig unberechtigte Einmischung in alles mögliche büssen müssen und Zeitungen werden sich semitischer Redakteure und Korrespondenzen entledigen müssen, wenn sie weiter leben wollen». Das waren keine Betrachtungen der Zeit, sondern offener Judenhass, der in der Vorstellung gipfelte, dass man auf ein «judenfreies Europa» hinarbeiten müsse. Insoweit war Burckhardt bloss ein Vertreter eines verstockt-religiösen, Demokratie- und fortschrittsfeindlichen Geldadels, der im feudalistischer Arroganz seinen Reichtum und Einfluss schützen wollte. Heute wäre Herr Burckhardt wohl Reichsbürger, Mitglied der AfD oder schlimmer, der Grünen. So einen kann man getrost im Büchergestell vor sich hinstauben lassen.
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