Der Roman hat keine Geschichte, keinen Anfang, kein Ende. Es ist wie die Pariser Banlieue neuf-trois: uferlos, schreibt der Stadtwanderer.

Durchs wilde 93

Benedikt Loderer hat «Bannmeilen» von Anne Weber gelesen. Sie machte ethnologische Stadtwanderungen durch die Pariser Banlieue und liefert das Protokoll dazu. Entstanden ist ein uferloser Roman.

Niemand geht da hin. Nach neuf-trois. Mit 93 beginnen die Postleitzahlen für das Département Seine-Saint-Denis im Norden von Paris, einer Gegend von schlechtem Ruf, eine der ärmsten Frankreichs. Hören wir von Krawallen in den Vorstädten, neuf-trois ist sicher dabei.


Es gibt eine deutliche Grenze zwischen drinnen und draussen, le boulevard périphérique, der Autobahnring um die Stadt Paris. Niemand der drinnen ist, interessiert sich für die da draussen. Anne Weber, Schriftstellerin und Übersetzerin hingegen doch. 1964 in Offenbach geboren, kam sie mit 17 nach Paris und blieb. Unterdessen schreibt sie ihre Bücher jeweilen doppelt, in beiden Sprachen deutsch und französisch. Sie lernte Thierry, einen Filmemacher kennen, der in neuf-trois aufgewachsen ist und immer noch dort lebt. Er ermunterte Weber mitzukommen, die berüchtigte Vorstadt zu erkunden.


Was gibt es in diesem Geflecht aus Schienen, Schnellstrassen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte, Wohnblöcke und pavillons de banlieue, sprich Einfamilienhäuser eingeklemmt sind, zu entdecken? Ihre Ausdehnung, Grösse wäre schon ein zu nobles Wort. Die beiden sind zu Fuss unterwegs und spüren in den Beinen, wie lange sie auf dem Asphalt unterwegs sind. Ausdauernd sei der Vorstadtwanderer, leidend und zäh. Das ungleiche Paar geht, wo niemand geht, wo nur Autos fahren, wo es nichts zu holen gibt, auf Schnellstrassen ohne Trottoir, stundenlang. Kein Bistrot in Sicht nirgends. Der Roman schildert aus der Sicht der Frau die schiefe Beziehung zwischen einer kritischen Intellektuellen und einem ressentimentgeladenen Secondo. Sie hat Mühe zu verstehen, wie er tickt. Nahe kommen sie sich nicht, doch sie entwickeln ihre eigenen Rituale, übertriebenes Blödeln zum Beispiel.


Mich als ahnungslosen Leser hat das Sozialgefälle erschreckt. Thierry als Kind einer algerischen Einwandererfamilie misstraut der französischen Republik, ja hasst sie. Anne, eine bildungsbeflissene Schriftstellerin liebt zwar Macron nicht, aber hält diesen Staat für eine funktionierende Notwendigkeit. Thierry ist unversöhnlich. Er ist Franzose, fühlt sich aber als Algerier. Die sind die einzigen Helden unter den Nordafrikaner. Sie haben die Franzosen gewaltsam vertrieben, während die Marokkaner oder die Tunesier vor den Franzosen auf den Knien um die Unabhängigkeit gewinselt haben. Noch schlimmer sind nur noch die Lybier, die kann Thierry nur verachten. Ich lernte, dass der Algerienkrieg, der 1962 zu Ende ging, immer noch andauert. Neuf-trois ist eines seiner alltäglichen Schlachtfelder.
Anne Weber protokolliert in Ich-Form. Sie urteilt nie, sie stellt fest. Thierry macht sie mit den Sitten der Eingeborenen und den Gefahren der Vorstadtwildnis bekannt. Er erkennt an den Aufpassern am Eingang der Wohnsiedlungen, dass hier Drogenhandel stattfindet, er kennt die fliegenden Automechaniker, die an den Strassen auf Kundschaft warten. Frau Weber gibt zu, alleine wäre sie nie nach neuf-trois aufgebrochen.


Die Friedhöfe sind die Merkpunkte im Wirrwarr. Einer besonders, denn dort liegt El Ouafi Bougueira, der Sieger des olympischen Marathons von 1928 in Amsterdam. Er war Algerier, wurde Franzose und Arbeiter bei Peugeot. Heute ist er vergessen. Anne Weber hat ihn wiederentdeckt. Ein Café im Niemandsland wird zur befremdlichen guten Stube. Bei jedem Besuch kommen die beiden den Gästen und dem Beizer einen Schritt näher. Abends und wieder zu Hause findet sie viel historisches Bindegewebe, wenn sie ihren Computer befragt. Er sieht, was er weiss und sie ordnet ein, was sie gesehen hat.


Der Roman hat keine Geschichte, keinen Anfang, kein Ende. Es ist wie neuf-trois: uferlos.

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