Die Autoren propagieren eine pragmatische Haltung. Doch sie gibt den politischen Konflikten zu wenig Gewicht, schreibt der Stadtwanderer..

Die Rückeroberung

Benedikt Loderer hat «Städtebau beginnt an der Strasse» gelesen. Das Buch zeigt an zwölf Beispielen, dass der Alltag sich nicht dem Verkehr unterwerfen muss.

Den Kindern wird heute beigebracht, sie dürften die Strasse nur auf dem Zebrastreifen überqueren. Das sei zu ihrer Sicherheit nötig, glauben wir unterdessen, doch ist es in Wahrheit ein Zwang. Früher war der ganze Strassenraum überall und für jedermann frei zugänglich, doch dann verdrängte das Automobil alle anderen Strassenbenützer an den Rand. Die Zurichtung des Vaterlands zum Gebrauche des Automobils wurde rücksichtslos durchgesetzt. Nur was Auto ist, ist. Doch das Umdenken ist in Gang, die Rückeroberung ist unterwegs.

Das Institut Urban Landscape der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat die Rückeroberung im Feld studiert, genauer, hat die Probe aufs Exempel gemacht. Nach einer historischen Einführung folgen zwölf ausgewählte Beispiele von Strassen, die bisher kaum beachtet wurden, weil sie so gewöhnlich sind. Wir fahren da nur durch. Doch sind es diese Ortsdurchfahrten, die ihre Umgebung prägen. Mit Bedacht haben die Autoren sowohl städtische, Langstrasse Zürich, wie auch agglomeritische, Zürichstrasse Brüttisellen, Beispiele gewählt. Sie haben genau hingeschaut und jedes der zwölf Beispiele mit Fotografien und Plänen dokumentiert. Durch jede dieser Strassen fahren pro Tag mehr als 10 000 Fahrzeuge.

Untersucht wurden die Quartierstruktur, der öffentliche Raum, die Dimensionen und Proportionen, die Mobilität und Erschliessung, die Bebauung und Nutzung, der Grünraum und die Ökologie und das Wohnangebot und das Wohnumfeld – zusammenfassend: Die Strasse ist mehr als der Verkehr. Von jeder der zwölf Strassen gibt es eine Fotoserie, einmal mit Blick in der Strassenachse, einmal quer dazu. Ich besichtigte das Panorama der Normalität, jener Strassenräume, an die wir uns gewöhnt haben, die wir benutzen, in denen wir aber nie verweilen. Eine gezielte Bestandesaufnahme.

Diese Strasse haben wir, wir kriegen keine andern. Trotzdem, dass es sich ändern muss, ist den Autoren klar. Sie suchen nach Kriterien der Besserung, nach den Qualitätsmerkmalen. Da traf mich ein Satz. «Statt abschätzig von Zersiedelung zu sprechen, könnte man eine engmaschige Durchdringung von Freiraum und Siedlung sehen und den Freiraum der Stadtlandschaft als das verbindende Element erkennen.» In der Agglomeration die Chancen sehen, nicht die Katastrophe.

Der Verkehr ist nur eine der Aufgaben der Strasse. Sie muss nicht als Band, sondern als Raum behandelt werden. Was das heisst, zeigt das nächste Kapitel wiederum durch Beispiele. Auf der linken Seite ein erklärender Text, rechts daneben die einleuchtenden Bilder. Alle Werkzeuge aus dem Baukasten der Strassenraumverbesserung werden ausgepackt und ihre Anwendung vorgeführt. Wer diese Mittel kennt, ist bereit, die «Planung neu zu justieren». Neu ist der Strukturplan, dessen Ziel es ist, «die Verkehrs- und Siedlungsplanung an den Stadtachsen und Ortsdurchfahrten besser aufeinander abzustimmen.» Das Tiefbauamt muss wissen, was der Ortsplaner tut. Der Strukturplan übernimmt «in der Erarbeitung der Nutzungsplanung und der Strassenbauprojekte eine koordinierende Funktion».

Problem gelöst? Nur zum Teil. Die pragmatische Haltung, die dahinter steht, gibt den politischen Konflikten zu wenig Gewicht. Wer sagt, den Strassenraum neu verteilen, sagt auch, den nehmen wir dem Auto weg. Der Kampf zwischen den durchfahrenden Benzinschweizern und den ansässigen Bewohnern mit ihrer beeinträchtigten Lebensqualität muss zuerst zugunsten der Ansässigen entschieden werden, bevor der Umbau zum Besseren beginnen kann. Immerhin, wir sind unterwegs.

PS: Wer wissen will, wie der Umbau einer Ortsdurchfahrt funktioniert, öffne das Themenheft «Ein Pfingsthain für Zürich West», Beilage zu Hochparterre 6-7/24. Überzeugend.

 

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