Ich las einen Bildungsroman und dann des Mannes Entfaltung und kriegte den Duft ‘Ende 19. Jahrhundert’ in die Nase, schreibt der Stadtwanderer.

Besichtigung eines Säulenheiligen

Benedikt Loderer hat die Graphic Novel über Carl Spitteler gelesen. Der Autor und Zeichner Andreas Müller-Weiss grub den einzigen Nobelpreisträger für Literatur aus und bliess den Staub von der Figur.

«Die hier präsentierte Graphic Novel wirft nicht nur einen frischen Blick auf einen verkannten Säulenheiligen der Schweizer Literatur, sondern etabliert zugleich eine neue Forschungsrichtung: Die ikonografische Literaturwissenschaft.» Ich übersetzte: Welche Bilder, leibhaftige, nicht Sprachbilder, haben den Dichter geprägt, welche waren ihm Vor-Bild, während er dichtete? An seinen Bildern werdet ihr ihn erkennen.

Der Illustrator und Comic-Zeichner Andreas Müller-Weiss meint es ernst. Seine Suche nach Belegen genügt jedem wissenschaftlichen Anspruch, kein gelernter Historiker gäbt tiefer. Woher ich das weiss? Aus «Jünglingserwachen. Die ersten 38% aus Le Corbusiers Leben», ebenfalls eine Graphic Novel, die in den ersten 21 Ausgaben von Hochparterre erschienen ist. Wo ich damals genialisch geschlampt hätte, da ging er ad fontes. Kein Detail überliess er dem Zufall und es wird mit Spitteler ebenso sein. Schauen wir mal nach, ob wir die Bilder finden.

Erzählt wird chronologisch das Leben des Carl Friedrich Georg Spitteler (1845-1924). Wenn überhaupt, kennen wir ihn nur seiner Rede wegen, seinem Schulbuchauftritt. Am 14. Dezember 1914 sprach er vor der neuen Helvetischen Gesellschaft über «Unsern Schweizer Standpunkt», worin er die Deutsch- und Welschschweizer zur Besinnung mahnte. Der erste Weltkrieg hatte sie gründlich auseinandergebracht. Ja und sonst? Olympischer Frühling? Ein Riesenlanggedicht für das er 1920 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Ich hab’s versucht, ehrlich. Doch nach 300 von rund 20 000 Versen streckte ich Hirn und Glieder. Ein Säulenheiliger gewiss, doch geht es ihm wie dem Helden auf dem Denkmal: Niemand beachtet ihn. Entschuldigung, «Die jodelnden Schildwachen» habe ich unterschlagen.

Also zurück zur ikonografischen Literaturwissenschaft. Sagt Spitteler auf Seite 17: «Der olympisch Frühling ist ein Stück näher verwandt mit Malern wie Arnold Böcklin oder Max Klinger als mit irgendeinem Dichter. Meine Vorliebe für die mythologische Welt gilt nicht dem hellenischen Menschheitsideal, sondern der Farbenwirkung von Fleisch und Bein in Wald, Luft und Meer. In meiner Jugend war meine ganze Seele tiefinnerlich verwachsen mit dem bildnerischen Talent, das ins Dichterische umgepflanzt wurde.» Ein verhinderter Maler? Ein Feuerreiter: Feuerversicherung, Feuerwaffen, lodernde Liebe, Feuersbrunst, Theaterbrand, Brandbomben, Feuerbestattung sind die Stationen seines Lebenswegs.

Selbstverständlich liefert Müller-Weiss die Belege zu seiner Literaturwissenschaft. Im Anhang sind sie sauber aufgelistet. Ich las einen Bildungsroman und dann des Mannes Entfaltung und kriegte den Duft ‘Ende 19. Jahrhundert’ in die Nase. Jeder Schauplatz stimmt, ob in Liestal, Basel, Bern oder Luzern. Es treten auf: Jacob Burckhardt, Arnold Böcklin, Friedrich Nietzsche, Ferdinand Hodler, Josef Viktor Widmann, Jonas Fränkel kurz das Kulturbiotop dieser Zeit. Als Zugabe: Bundesrat Berset und Müllers Grossonkel Professor Jaberg im Gespräch mit seinem Neffen. Ich gestehe, die ikonographische Literaturwissenschaft geriet während der Lektüre zunehmend in den Hintergrund. Ich glaube trotzdem daran.

Warum Müller-Weiss ein beengendes Querformat gewählt hat, verstehe ich nicht, griff des Verlegers schwere Hand ins Werk? Müllers Spezialität, die ganzseitigen Kompositionen mit über alle Panels hinweggehenden Motiven, verarmt quer.   

Ich mag diesen Spitteler-Comic, denn ich bin seit 40 Jahren ein Fan von Müller-Weiss und noch mehr von Sambal Oelek.

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