Flums: Ilona Schneider und Michel Eigensatz möchten eine alte Arbeitersiedlung wachküssen. Fotos: Markus Frietsch
In Zusammenarbeit mit ProMiet AG

Spuren aus dem Neudorf

Die Zeit hat einer Arbeitersiedlung in Flums zugesetzt. Ein Architektenpaar wagt die Rettung mit einer Wohngenossenschaft. Dies ist eine von 5 neuen Wohnformen, die am 15. September in Bern diskutiert werden.

Ein Dorf im Sarganserland, im tiefen Seeztal, am Fusse imposanter Berge. Die höchsten Gipfel sind noch verschneit, dazwischen hängen Wolken. Hinter dem Bahnhof folgen die Strommasten dem dunkelblauen Flüsschen, am gegenüberliegenden Ufer wird gebaut. Kräne, Gerüststangen und ein ovaler Neubau ragen in den Himmel. Trotzdem gibt es an der Bahnhofstrasse kaum mehr Läden. Auf dem zentralen Postplatz haben die Dorfbewohnerinnen schon lang kein Fest mehr gefeiert. Darüber, was hinter der Post liegt, spricht hier niemand gerne. Doch gerade das verwunschene Neudorf könnte den Ort aus seinem Dornröschenschlaf wecken.

Gekieste Strasse und abblätternde Farbe: Im Neudorf scheint die Zeit stillzustehen.

Ein untergehendes Baudenkmal
Lang ist es her, seit die Familie Spoerry mit grossen Plänen aus dem Zürcher Oberland nach Flums übersiedelte. Der Ort lockte als vielversprechender Industriestandort, und so gründeten sie 1866 eine Spinnerei. Dünnstes Baumwollgarn spannen ihre Arbeiter, aus dem sich wertvolle Stoffe herstellen liessen. Das Geschäft florierte. Die Unternehmerfamilie wollte auch für ihre Angestellten Verantwortung übernehmen und baute am Rand des Dorfkerns eine Siedlung für sie. Bald schon leuchteten die ersten Fachwerkgiebel der dreigeschossigen Doppelhäuschen rostrot in der Sonne. Fortan kehrten die Arbeiterfamilien nach der Fabrikarbeit heim in ihre vier Zimmer mit grosszügigem Garten. Neudorf nannten sie den kleinen Dorfteil. Doch bereits der Name liess erahnen, dass sich weder die starre Bebauungsstruktur noch deren Bewohner je ganz ins Dorf integrieren würden.

Seit damals ist viel Zeit vergangen. Zeit, die um die Hausecken strich und mit jedem der mehr als 100 Winter etwas mehr Farbe und Verputz mitriss, an den Fensterläden rüttelte und hier und da eine Scheibe einschlug. Vor allem albanischstämmige Familien aus Nordmazedonien lebten inzwischen in den Häuschen. Wer nicht dort wohnte, betrat das Neudorf nicht. Auf dem Weg von der elterlichen Zimmerei zur Schule ging auch Ilona Schneider jeden Tag am Neudorf vorbei. Am Morgen hörten die Schulkinder dem Vogel zu, der von den schiefen Fensterläden herab das Lied der Neudorf-Schuhe pfiff. Sie lernten: Wer mit staubigen Schuhen ins Dorf kommt, lebt in den kleinen Häusern an den gekiesten Strassen. Doch auf dem nahen Postplatz waren kaum je staubige Schuhe zu entdecken. Die Bewohnerinnen des Neudorfs hatten wenig mit dem Rest des Dorfs zu tun. Ilona Schneider zog nach der Schule in die Welt hinaus und studierte Architektur. Das Neudorf vergass sie nicht.

Der Hausraster der Siedlung gehörte zur ehemaligen Spinnerei Spoerry links unten. Foto: Walter Mittelholzer, 1919

Mit neuem Blick
An einer Wäscheleine im Garten lässt ein Mieter seine Arbeitspullis trocknen. Sie erinnern an die Zeit, bevor die Spinnerei vor 13 Jahren ihre Tore schloss. Die Zeit scheint stillzustehen, die Autos auf dem schlaglöchrigen Kiesweg wirken geradezu futuristisch. Zusammen mit Michel Eigensatz kehrte Ilona Schneider zurück. Mit neuem Blick erkundeten die beiden den Ort und fanden in den offenen Aussenräumen des Neudorfs viel Zukunft für das Zusammenleben im Quartier und die Anbindung an das Dorf. Hinter den bröckelnden Fassaden und den zugenagelten Fensterläden entdeckten sie, wovon auch das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz spricht: ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung, ein «typologisch und sozialgeschichtlich wichtiger Zeuge der einst boomenden Textilindustrie».

Kommen die Flumserinnen auf ihrem Sonntagsspaziergang am Neudorf vorbei, senken sie den Blick. Lange schwebte über dem Quartier die unausgesprochene Hoffnung, dass man vielleicht doch etwas Neues bauen könnte, würde es nur genug verfallen. Die Zeit, so schien es, hatte ihren Kampf fast gewonnen. Der Zustand vieler Häuser ist desolat. Gefährlich veraltete Elektroanlagen und sogar durchgebrochene Böden machen ein Drittel der Häuser unbewohnbar. Ganz unterschiedliche Menschen wohnen heute in den restlichen Häusern des Neudorfs. Mit den tiefen Mieten und dem einfachen Ausbau werden sie eher zwischengenutzt als gewöhnlich vermietet.

Viele haben sich an einem Projekt für das Neudorf versucht. Zwei Pilotsanierungen zeigten: Nach herkömmlichen Vorstellungen betreffend Rendite und Komfort lässt sich das Neudorf nicht sanieren. Genau hier setzten Ilona Schneider und Michel Eigensatz an – ganz ohne Auftrag und ohne Bauherrschaft. Wie gründen wir eine Genossenschaft auf dem Land? Wie organisieren wir die Finanzierung für ein so grosses Projekt? Mit diesen Fragen und dem Projektvorschlag für die Sanierung gewannen sie ein ‹Sprungbrett›-Coaching. Ihr Projekt forderte das Nachfolgeunternehmen der Spinnerei Spoerry heraus, sich über die Zukunft der Siedlung Gedanken zu machen – gross war die Begeisterung nicht. Vor Kurzem hat Andreas Hofmänner, Geschäftsführer von Eckstein Immobilien, das Grundstück übernommen. Die Ideen des Architektenpaars interessierten ihn. Die erfahrene Basler Architektin Barbara Buser unterstützt die beiden als Coach auch dabei, Hofmänner die Idee der Genossenschaft und der alternativen Finanzierung näherzubringen.

Nun sollen die Räume sanft saniert werden. Foto: Thomas Kessler
Die Häuser sind vernachlässigt, aber dafür noch ursprünglich. Foto: Thomas Kessler

Hoffnungsschimmer
Fast hätten die Ansprüche an zeitgemässes Wohnen auch die Mauern der Neudorfhäuser gesprengt. Die Architekten planten, die Häuser komplett auszuhöhlen, um ihnen statt der kleinen 4-Zimmer-Wohnungen eine grosse und eine kleine Einheit einzuschreiben. Die Kosten dafür waren hoch, und Barbara Buser ermutigte Ilona Schneider und Michel Eigensatz, das Geld dort einzusetzen, wo mit kleinen Eingriffen die grösste Wirkung erzielt werden kann. Bald werden sich die ersten Bauarbeiter ans Werk machen und den minimalen Umbau an einem Musterhaus testen. Es gibt eine neue Küche, und hinter der Treppe wird ein Einbaumöbel auf den Zwischengeschossen Platz für Garderobe, Toilette und Installationen bieten. Neue Sprossenfenster und eine Innendämmung in den Räumen ohne Täfer halten künftig die Kälte ab. Bis dahin warten viele Fragen auf Antworten: Können wir die Mosaikplättchen am Boden erhalten? Welches Material finden wir unter dem Linoleum? Wie gehen wir mit der abblätternden Farbe auf den gedrechselten Treppengeländern um? Während Ilona Schneider und Michel Eigensatz im Häuschen Schicht für Schicht entdecken, streift draussen eine Katze um die Zaunpfosten. Sogar solch einfache Bauteile werden bei einer grossen Siedlung wie dem Neudorf zur Herausforderung: Zwei Kilometer rostiges Metall warten auf einen frischen Anstrich.

Für den Erfolg des Quartiers ist Vielfalt zentral. Nicht nur Mutter, Vater und zwei Kinder sollen künftig in den Neudorfhäuschen leben, auch für Wohngemeinschaften, grössere Familien und Generationenwohnen hat das Architektenpaar Ideen. An acht Stellen könnte ein Anbau die Häuser zu einer 5½-Zimmer-Wohnung vergrössern – überall dort, wo er die fliessenden Aussenräume nicht stört und die Topografie es zulässt. Zwei Öffnungen in der Mittelwand im Erd- und im Dachgeschoss könnten eine gemeinschaftliche Nutzung der beiden Haushälften möglich machen. Zusammen mit den beiden bestehenden Treppen ergeben sich so unterschiedliche Raumbezüge.

Egal ob Kleinfamilie oder Generationenwohnen – alle künftigen Bewohnerinnen sollen Teil der gemeinnützigen Genossenschaft werden, deren Gründung in Vorbereitung ist. Bis es so weit ist, können interessierte Dorfbewohner dem Verein Pro Neudorf Flums beitreten. Dessen Website erklärt den Projektstand und führt die Vorteile des Genossenschaftsmodells aus. 2025 wird der Besitzer die Häuser an die Genossenschaft verkaufen und das Land im Baurecht abgeben. Welche Ideen umgesetzt werden, wird die Genossenschaft auf Basis des Musterhauses entscheiden.

 

Späte Integration
Während hinter einem Sprossenfenster drei Orchideen auf die Abendsonne warten, harren die Neudorfhäuser ihrer Wiederentdeckung. Zuzügerinnen aus der Stadt, die mit der Genossenschaftsidee vertraut sind, sollen vormachen, wie es geht. Sie könnten Magnete sein, die auch Menschen aus der Region in die Neudorfhäuser locken. Im besten Fall werden sich Firmen aus dem Dorf an der Instandsetzung beteiligen und so eine neue Verbindung zum Neudorf aufbauen. Sind die Flumser stolz auf ihr Baudenkmal, wird sich die Siedlung vielleicht zum ersten Mal in das Dorf integrieren. Gerade noch scheinen die Häuser der Zeit entkommen. Bald werden immer mehr Menschen mit staubigen Schuhen auf dem Dorfplatz unterwegs sein. Und der kleine Vogel wird für sein Lied eine fröhlichere Melodie finden müssen.

Michel Eigensatz und Ilona Schneider mit ihrem Coach Barbara Buser.

close

Kommentare

Anna Elisabeth Staub-Wildhaber 02.03.2024 18:55
Früher hiess das Neudorf "Neuquartier", dieser Name sollte beibehalten werden. Ich bin mit Blick auf das Neuquartier aufgewachsen und bin begeistert, dass sich jemand um das Neuquartier kümmert. Wohne auch in einer Genossenschaft im Zürcher Oberland.
Kommentar schreiben