Sondermüll und kulturelle Energie

Kreislaufbauen beginnt bei dem, was da ist: bei Bauteilen und Bestand. Das erfordert neue Gesetze und ökonomische Modelle. Eine Recherche aus dem Themenheft «In Kreisen bauen».

Fotos: Joël Roth (Illustration)
In Zusammenarbeit mit dem BAFU

Kreislaufbauen beginnt bei dem, was da ist: bei Bauteilen und Bestand. Das erfordert neue Gesetze und ökonomische Modelle. Eine Recherche aus dem Themenheft «In Kreisen bauen».

Das nachhaltigste Smartphone ist das, das du schon besitzt. So steht es auf der Homepage von Fairphone, einem Winzling verglichen mit Apple und Samsung, der es besser machen will. Besser heisst dabei gute Arbeitsbedingungen und umweltschonende Materialien, aber auch: Das Fairphone soll länger halten und reparierbar sein. Darum lassen sich Komponenten wie die Kamera austauschen und upgraden. Ein Schraubenzieher und eine Videodatenbank genügen, um es selbst zu tun.

Was die Handyfirma aus Amsterdam tut, lässt sich aufs Bauen übertragen. Längst ist klar, dass wir zu viel betonieren und mauern. Oft liegen Elektro- und Wasserrohre in den Betondecken verlegt. Im Fassaden- und Ausbau wird fleissig gegossen und geklebt. Das heutige Haus ist der Abfall von morgen. Kreislauffähige Bauten dagegen wären sortenrein und demontierbar konstruiert. Tragwerk, Fassade, Haustechnik und Ausbau wären getrennt. Sie bestünden vor allem aus Sekundärrohstoffen und regenerativen Materialien.

Dirk Hebel, Professor für nachhaltiges Bauen am Institut für Technologie in Karlsruhe, sieht darin aber nur einen von zwei Kreisläufen auf dem langen Weg zum Perpetuum mobile. Neben dem, was wir einbringen, geht es um das, was da ist – die urbane Mine. Leider ist sie alles andere als kreislaufgerecht konzipiert. «Wir müssen nicht nur Rohstoffe zurückgewinnen, sondern auch aussortieren, was sich noch nicht sinnvoll weiternutzen lässt», erklärt Hebel. «Weil beides ungeheuer aufwendig ist, sollten wir möglichst viel erhalten. Wiederverwendete Bauteile und Tragstrukturen sind die ‹tief hängenden Früchte›, die wir unbedingt ernten sollten.»

Dahinter steckt eine einfache Erkenntnis: Weil wir die Betriebsenergie zunehmend im Griff haben, rückt die Erstellungsenergie bei Neubauten ins Zentrum. Doch das Nettonull-Gebäude ist noch in weiter Ferne, die graue Energie fällt auf einen Schlag an, und in der Klimakrise entscheiden bereits die nächsten Jahrzehnte. Deshalb brauchen wir eine Kultur des Umbauens, des Reparierens und des Weiterverwendens.

Kultur- und Gewerbehaus Lysbüchel, Basel: Zwischen dem Rhythmus alter Trapezbleche sitzen 200 Lagerfenster in den aus Abbruchholz geleimten Rahmen. (Foto: Martin Zeller)

Restposten und Abbruchteile

«Metall, Holz-Metall, Plastik – wir haben jedes Fenster genommen», sagt Oliver Seidel vom Baubüro In Situ. Der Architekt steht zwischen einem zur Schule gewordenen Lagerbau und dem neuen Kultur- und Gewerbehaus des Kantons Basel-Stadt. Der Zwischenraum ist neu, denn das ehemalige Coop-Verteilzentrum auf dem Lysbüchel-Areal war ein riesiges Konglomerat. Um zwei Achsen gekürzt, bekam das Haus eine 86 Meter lange Fassade und einen Lichthof. «Dafür sammelten wir etwa 200 Lagerfenster von regionalen Fensterbauern», sagt Seidel, «also meist fabrikneue, aber zu viel oder falsch produzierte Fenster, die sonst im Müll landen.» Der Lichthof ist ein Tetris-Spiel in grauem Putz und sieht so charmant-chaotisch aus, wie man sich eine Fassade aus zufälligen Restposten vorstellt. Die Aussenfassade kommt ruhiger daher, was dem neuen Stadtraum gut ansteht. Grüne Trapezblechstreifen des abgerissenen Gebäudeteils rhythmisieren die Fläche. Dazwischen fassen Holzrahmen die Fenster zusammen. Für die Leimbinder liessen die Architekten Pfetten und Sparren von Abbruchhäusern zu Lamellen sägen. Für die Dämmung nahmen sie Holzfaserplatten und 150 Kubikmeter Abschnitte von Steinwolle. Der Hersteller, der diese Resten normalerweise einschmilzt und neu schleudert, lieferte sie für bloss 5000 Franken samt Granulat für die Zwischenräume. Die Fenster kosteten unter 300 Franken das Stück. Und trotzdem ist die ressourcenrettende Fassade nicht günstiger als beim Neubau. «Logistik, Timing, Normen und Garantie sind echte Knacknüsse», sagt Seidel, «denn man nimmt die Dinge mindestens zweimal in die Hand: zum Ausbauen und Lagern, allenfalls zum Anpassen und sicherlich zum Wiedereinbauen. Dabei explodiert der Planungs- und Arbeitsaufwand und frisst die Kostenersparnis auf Ressourcenseite schnell auf.»

Aufstockung K118, Winterthur: Das Pilotprojekt besteht zu fast sechzig Prozent aus alten Bauteilen und verursacht nur halb so viele Emissionen wie der SIA-Effizienzpfad Energie verlangt. (Foto: Martin Zeller)

Auf dem Lagerplatz in Winterthur gingen In Situ noch weiter. Für eine Pensionskasse, die Stiftung Abendrot siehe Seite 12, setzten sie dem Kopfbau einer Industriehalle drei Gewerbegeschosse auf, die zu fast sechzig Prozent aus alten Bauteilen bestehen: Stahlträger und -bleche, Fenster, Dachelemente aus Holz, Photovoltaik- und EPS-Dämmplatten, selbst Heizkörper, Lavabos, Türen und Riemenböden treten ein zweites Leben an. Auch hier gelingt den Architektinnen eine geordnete Fassade. Wie Röcke hängen die von einer alten Druckereihalle abmontierten Wellbleche übereinander. Unter den klaren Kanten hängen aufgedoppelte und mit Öffnungsflügeln ergänzte Fenster in variablen Füllfeldern. Das Resultat der Bricolage: Verglichen mit den Zielwerten von Minergie-Eco brauchte die Aufstockung nur halb so viel graue Energie, sie sparte somit 326 Tonnen CO2. Und das, obwohl viel Restenergie angerechnet wurde – von Bauteilen notabene, die sonst deponiert, verbrannt oder energieintensiv rezykliert würden. Beim Stahl zum Beispiel gilt in den Ökobilanzen die Lebensdauer von sechzig Jahren. Weil die Träger von einer 15-jährigen Lagerhalle kamen, sparte man rechnerisch nur ein Viertel.

Beispiel Tscharnergut in Bern

Der grosse Hebel liegt ohnehin andernorts. Im Bauwerk Schweiz nämlich, das im Hochbau aus 1,6 Milliarden Tonnen Material besteht. Drei Viertel davon sind Beton und Mauerwerk, die Tragwerke also. Weil Häuser grösser als Smartphones sind, macht der Gebäudesektor zwei Drittel des Schweizer Abfallvolumens aus, das pro Kopf eines der höchsten weltweit ist. Dabei führt selten die Bausubstanz zum Abrissentscheid, sondern eine Kombination aus modernen Komfortwünschen, Verdichtungswillen und der heutigen Ökonomie.

Tscharnergut, Bern: Nur ein Verputzstreifen verrät, dass eine Raumschicht die Sechzigerjahresiedlung erweitert. (Foto: Alexander Gempeler)

Eine Zeile im Berner Tscharnergut zeigt, wie es anders geht. Die Sechzigerjahrebauten mit 1200 Wohnungen sind denkmalgeschützt. 2006 machte die Genossenschaft Fambau, eine von drei Besitzerinnen, eine Studie zur Weiterentwicklung. Matti Ragaz Hitz schlugen eine Lösung zum Durchwohnen vor, Rolf Mühlethaler eine sanfte Erweiterung. Beim gemeinsamen Pilotprojekt im Jahr 2016 realisierten sie Letztere, denn Änderungen an der Tragstruktur aus dünnen Betondecken und Backsteinwänden wären zu aufwendig gewesen. Heute sind die Haustechnik und die Fenster ersetzt. Neue Treppentürme erschliessen den Laubengang im Osten. Im Westen erweitert nun eine neue Raumschicht die Loggien, Wohn- und Schlafzimmer. Ansonsten blieben die Grundrisse der 96 identischen 3-Zimmer-Wohnungen fast unverändert. 24 Mal allerdings schlugen die Architekten ein Zimmer der Nachbarwohnung zu, um auf diese Weise auch 2- und 4-Zimmer-Wohnung zu schaffen. Der Umbau erforderte verschiedene Kompromisse: Gedämmt ist die neue Raumschicht aussen, die Laubengang- und Stirnfassaden sind es bloss innen. Damit erreicht das Projekt etwa 85 Prozent der Energieanforderungen.

Die Grundrisse sind kleiner als heute üblich, aber klug organisiert. (Foto: Alexander Gempeler)

Für Menschen im Rollstuhl ist der Laubengang nach wie vor schmaler, als es die Norm verlangt, und die angrenzenden Zimmer blieben neun Quadratmeter klein. «Aber es sind kluge Zimmer, gut möblierbar, weil Türen und Fenster am richtigen Ort sind», sagt Rolf Mühlethaler. Auch der Schallschutz entspricht nicht den heutigen Normen. «Aber ist Autarkie wirklich der richtige Anspruch, seine Nachbarn nicht mehr zu hören?», fragt der Architekt rhetorisch. Er sieht das Tscharnergut als Paradebeispiel für Materialgenügsamkeit und Rationalität. In gleicher Arbeitsgemeinschaft erweiterte er für eine andere Genossenschaft eine zweite Gebäudezeile nach ähnlichem Muster und sanierte eine dritte ohne zusätzliche Raumschicht.

Die Fambau aber, die das Pilotprojekt anstiess, plant nun einen Ersatzneubau – die Kompromisse waren ihr zu viele und die eingezogenen Familien zu wenige. Seither gehen die Wogen ums ‹Tscharni› hoch. Der Regierungsstatthalter hat den Abbruch bewilligt, der Heimatschutz legte Rekurs ein, der Stadtpräsident spricht vom Vertrauensbruch. Wie auch immer es weitergeht, Mühlethalers Haltung ist klar: «Wir reissen zu viel ab. Oft heisst es, der Bestand lasse sich nicht verdichten oder ertüchtigen. In Wahrheit handelt es sich meist um einzelne Bauteile, die sich flicken lassen.» Viele Bauherren würden die Ausein andersetzung mit dem Bestand scheuen und die einfache Investition suchen, meint der Architekt. «Ich gehe immer von dem aus, was da ist. Ob ein Haus schön oder hässlichist, denkmalgeschützt oder nicht, spielt keine Rolle.»

Atelier Katalin Deér, St. Gallen: Auf dem Sitterwerk findet ein altes Bauernhaus eine neue Bestimmung und Form, mit geräumigem Dachstock und Nordlicht zum Kunstschaffen. (Foto: Katalin Deér)

Flury + Furrer, die Hausarchitekten der Kunstgiesserei St. Gallen, teilen diese Haltung. Seit zwanzig Jahren bauen sie die Hallen des Sitterwerks um und aus, stellen auch mal einen Stahlpavillon, der als Mensa ausgedient hat, zum Wohnen aufs Dach oder verbauen Abbruchfenster zur Bürotrennwand. Für die Bildhauerin und Fotografin Katalin Deér nutzten sie nun ein 1860 gebautes und in den 1930ern erweitertes Bauernhaus zum Atelier um. Oft werden Industrie- zu Wohnbauten, hier ist es umgekehrt. Von Laminat, Pavatex und abgehängten Decken befreit, dient das Erdgeschoss nun als Lager- und Präsentationsraum, die Küche als Gipswerkstatt. Das Obergeschoss nutzt Deér als Bibliothek, Fotoarchiv und Schreibstube. Den Dachstuhl mit kleinen Mansarden ersetzten die Architekten durch ein luftiges Atelier in Holzelementbauweise. Heller Kalkputz verwischt die Grenze von Bestand und Aufstockung. Ein grosses Fenster mit Hebekran und das Oberlicht entlang der Nordfassade verraten trotzdem unmittelbar, dass hier etwas passiert ist.

«Wir wollten nicht etwas Altes mit etwas dazu machen, sondern Alt und Neu verschmelzen», sagen die Architekten. Innen entfernten sie eine Wand und schufen einen Durchgang. Die hölzerne Treppe reicht weiterhin bis unters Dach, doch nun begleitet sie ein schlanker Handlauf aus massivem Rundstahl auf Höhe der heutigen Absturznorm. Ob sie die graue Energie und den Betrieb des Umbaus und eines ähnlichen Neubaus berechnet haben? «Das ist eher Bauchgefühl», antworten sie lächelnd, «uns geht es um kulturelle Energie: Das alte Geländer hat der Bauer tausende Male berührt.»

Die grosse Transformation

Im Oktober 2020 kündigte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, ein ‹neues europäisches Bauhaus› zu gründen. Der Bausektor solle von der Kohlenstoffquelle zur Senke werden. Dafür brauche es auch ein kulturelles Projekt, eine neue Ästhetik.

Gewiss ist die Frage spannend, wie die postfossile und kreislauffähige Architektur von morgen aussieht. Doch ändert sich der Rahmen, kommt die Antwort von allein. Natürlich zählen jeder überzeugte Architekt und jede mutige Investorin. Doch ob die grosse Transformation kommt, entscheiden in erster Linie die Gesetze und das Geld. Heute ist Material billig und Arbeit teuer. Die graue Energie kommt in der Energiestrategie 2050 und in den kantonalen Energiegesetzen nicht vor. In den Labels spielt sie eine untergeordnete Rolle. Selbst die schärfsten Labels rechnen den Abbruch nicht dem Neubau an, ganz zu schweigen von der normalen Baubewilligung.

Wirksame Anreize setzen

Wie wäre es mit höheren Entsorgungsgebühren? Mit Steuervorteilen bei Materialpässen für Gebäude, wie sie die Plattform Madaster anbietet? Oder Parzellenpässen mit einer Kompensationspflicht, falls man Bausubstanz abreisst, bevor die Lebensdauer endet? Beim Stahl müssten das natürlich weit mehr als sechzig Jahre sein. Wie tief sollen Investoren den Gebäudewert künftig abschreiben dürfen? Was würde ein Mindestanteil alter Bauteile für mehr Ausnützung auslösen, verbunden mit flexiblen Oldtimer-Normen und mehrwertsteuerbefreiter Arbeit?

Genau weiss das niemand. Den politischen Absichten würden wohl ökonomische Modelle mit mehr Arbeit bei weniger Ressourcenverbrauch folgen. Frühvernichter müssten jene bezahlen, die ihnen Ressourcen abnehmen und zu neuen Produkten machen. Oder zu Dienstleistungen. Eigentümer würden drei Mal überlegen, ob sich ihre Häuser nicht doch ertüchtigen und erweitern lassen und ob ihre Vorstellungen wirklich so zwingend sind. Bauteile würden flächendeckend analysiert und ausgebaut, von harten Konkurrenten geprüft und garantiert, aufgefrischt und angepasst. Algorithmen würden den Architektinnen vorschlagen, wie sich ihre Ideen mit dem aktuellen Angebot befriedigen liessen.

Im Konjunktiv ist die Spekulation müssig. Sicher ist einzig: Kreative Architektinnen würden ebenso unterschiedliche, gute und schlechte Häuser bauen, wie sie es mit den bauindustriellen Möglichkeiten von heute tun.

Dieser Artikel stammt aus dem Themenheft «In Kreisen bauen», das Hochparterre zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt auf Deutsch und Französisch herausgegeben hat.

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