Die Fronten der Seebahnhöfe mit der verbundenen Basis. Collage: LAUS

Seebahnhöfe retten

Die ‹IG Seebahnhöfe-retten› setzt sich gegen den Abriss der Siedlungen Seebahn und Kanzlei in Zürich ein. Nun erhält sie Unterstützung von der Gruppe ‹LAUS›. Ihre Argumente für den Erhalt.

Die «Seebahnhöfe» sind in Zürich ein Begriff. Die grossen Genossenschaftssiedlungen aus der Zeit des Roten Zürich prägen die Stadtstruktur entlang des Seebahngrabens. Sie bilden den Auftakt zum ehemaligen Arbeiter*innenquartier Aussersihl und geben ihm ein Gesicht. Doch die Genossenschaften ABZ und BEP planen Ersatzneubauten für ihre Hofsiedlungen. Eine Erhaltung und Erweiterung der bestehenden Bauten sei nicht möglich, die unter dieser Prämisse durchgeführten Wettbewerbe führten zu Neubauprojekten. Dagegen hat sich im November 2024 die ‹IG Seebahnhöfe-retten› formiert (‹Tsüri› berichtete). Die IG fordert den Zürcher Gemeinderat auf, den Gestaltungsplan «Seebahn-Höfe», über den er dieses Frühjahr entscheiden wird, abzulehnen und kritisiert das Vorgehen der Genossenschaften. Sie skizziert auch, wie eine Verdichtung im Bestand möglich wäre, die gleich vielen Bewohner*innen Platz bietet.

Aus dem Umfeld der IG agiert auch die neu gegründete Gruppe ‹LAUS› – Langzeit Architektur und Stadt. Sie argumentiert, dass bei der Inventarentlassung vor allem die Betrachtung der Höfe als Ensemble geringgeschätzt worden sei und ein Abriss ausgeschlossen sein sollte. Ihre Argumente wollte sie Ende letzten Jahres der Sachkomission Hochbaudepartement und Stadtentwicklung vorlegen. Diese lehnte ab (Stellungnahme am Ende des Artikels). Wir bringen im Folgenden die Argumente der Gruppe als Kommentar – als «öffentliches Gutachten» und als Beitrag zum städtebaulichen Diskurs:

 

Für den Erhalt des Ensembles «Seebahnhöfe»

Ein Kommentar der Gruppe ‹LAUS›

Die Genossenschaften ABZ und BEP wollen die «Seebahnhöfe» an der Seebahnstrasse in Zürich abreissen. Genauer: die ABZ-Siedlung Kanzlei von Architekt Otto Streicher (1930) und die BEP-Siedlung Seebahn von Architekt Pietro Giumini (1929). Das Hochbaudepartement unterstützt die Genossenschaften in ihrem Vorhaben. Der Heimatschutz rekurrierte gegen die Entlassung der Siedlungen aus dem Inventar und wies detailliert auf die Qualitäten der beiden Hofbauten hin. Der Zürcher Stadtrat hielt dem Rekurs eine Argumentation entgegen, die einzelne vergleichbare architektonische Merkmale auch bei anderen Bauten der gleichen Entstehungszeit finden will. So habe beispielsweise auch die Wohnsiedlung Raindörfli von Arnold Huber-Sutter eine Dachterrasse, wenn auch keine gemeinschaftlich genutzte; mit Klinkern eingefasste Fenster habe auch die Überbauung Lehenstrasse von Schneider & Landolt; Fassadenmalereien seien auch bei der ABZ-Kolonie Sihlfeld I/II zu finden; etc. Damit lasse sich die Schutzwürdigkeit aufheben, so die Logik.

Diese Argumentation ist an sich schon fragwürdig, als ob die Architektur aus einzelnen Eigenschaften zusammengestückelt wäre. Aber auch abgesehen von dieser zu sehr auf Einzelheiten fixierten Betrachtung wurde insbesondere der Wert des Ensembles der Seebahnhöfe im Prozess der Inventarentlassung geringgeschätzt. Jeder Fall wurde einzeln behandelt: zwei Eigentümerinnen, zwei Höfe, zwei Wettbewerbsprojekte, zwei Rekurse, zwei Urteile. Mit dem Gestaltungsplan «Seebahn-Höfe», über den der Zürcher Gemeinderat dieses Frühjahr entscheiden wird, rückt die Gesamtsituation dieser Höfe wieder ins Blickfeld. Nun gilt es, die in der bisherigen Betrachtung zu kurz gekommene Ensemblequalität in den Vordergrund zu rücken.

Schützenswertes Dreiergespann
Die städtebauliche Situation ist bemerkenswert: Die drei Höfe Erismann-, Seebahn- und Kanzleihof reihen sich entlang des Seebahngrabens und markieren den Beginn des proletarischen Quartiers Aussersihl. Der Entscheid des Baurekursgerichts führt die Ensemblequalität einzig auf die geschwungene Bebauung entlang des Seebahngrabens zurück. Wesentlichere Gemeinsamkeiten hat es unseres Erachtens bei der Beurteilung aber übersehen. Das Ensemble entsteht vor allem durch die gemeinsame typologische Disposition der drei Höfe, die sie – trotz ihrer jeweils eigenständigen architektonischen Gestaltung – eindeutig aufeinander ausrichtet. Im Sinne eines zusammenhängenden Dreiergespanns sind die Ecken aller drei Höfe zueinander offen.

 

Die Seebahnhöfe, fotografiert 1931. Von vorne: ABZ-Siedlung Kanzlei, BEP-Siedlung Seebahn und Wohnsiedlung Erismannhof. Quelle: Baugeschichtliches Archiv Zürich

In Zürich gibt es zwar mehrere Höfe mit offenen Ecken, die ebenfalls durch zurückversetzte Querseiten gebildet werden, wie beispielsweise die Siedlung Ottostrasse von Otto Streicher, die Wohnkolonie Rebhügel der Gebrüder Adolf und Heinrich Bräm oder der Wohnbau an der Wetlistrasse von Fritz Scotoni und Rudolf Steiner. Was die «Seebahnhöfe» jedoch klar unterscheidet und sie in Zürich einzigartig macht, ist die bauliche Verbindung der einzelnen Gebäudetrakte. Am deutlichsten wird dies im mittleren Hof der BEP: Zweigeschossige Verbindungsbauten mit Fensterbändern und Passage schliessen den Hof ab. Durch diese Verbindung entsteht eine Architektur, die sich sowohl von gruppierten Zeilen als auch vom Blockrand deutlich unterscheidet. Im Ansatz liegt hier eine volumetrisch artikulierte Hofbebauung vor, womit das Rote Zürich gerade mit diesem Ensemble in die Nähe der Architektur des Roten Wiens rückt.

 

Die Fronten der Seebahnhöfe mit der verbundenen Basis. Collage: LAUS

Die beiden äusseren Höfe sind zum mittleren hin gleich aufgebaut: Die Fassadenfigur ist im Prinzip übernommen, aber anders artikuliert. Beim Erismannhof sind Längs- und Querriegel durch torartige Mauern mit Kugelmotiven verbunden, beim ABZ-Hof durch eine Verengung und Überdachung des Durchgangs. Diese einzigartige halbverbundene Typologie rahmt die über den Seebahndamm führenden Kanzlei- und Stauffacherstrasse – sie bildet ein Tor zum Quartier mit gegenüberliegenden burgartigen Stirnen. Die inszenierten Durchgänge von Hof zu Hof verbinden das Ensemble trotz der durchschneidenden Strassenzüge und schaffen eine zweite innere Wegführung parallel zur Seebahn- und Erismannstrasse. Entlang dieser inneren Erschliessung und ausgerichtet auf die beiden Einfallstrassen befinden sich Läden und beim ABZ-Hof zudem der Zugang zum Kindergarten und zum Siedlungssaal mit Bühne. Die liebevoll gestalteten Erdgeschosse und die integrierte soziale Infrastruktur erweitern die Wohnbauten zu mehr als nur Schlafstätten. Sie stärken die Ensemblequalität zusätzlich.

 

Blick in den Siedlungssaal mit Bühne der ABZ. Foto: LAUS

Nicht austauschbar
Im Quartier Aussersihl gibt es sieben gemeinnützige Hofbauten. Die Stadtregierung argumentiert, dass es deshalb kein Problem sei, einzelne zu ersetzen. Allein der Blick auf die typologische Grundform zeigt jedoch, dass die einzelnen Höfe nicht austauschbar sind: So ist beispielsweise die Siedlung Erna mit der ersten Kinderkrippe der Stadt (neben dem Erismannhof; auf dem Archivbild gerade im Bau) als konventionelle blockfüllende Randbebauung mit abgetrenntem Innenhof ausgebildet. Der Bullingerhof hingegen ist aus unverbundenen Zeilen aufgebaut. Der Innenbereich ist weitläufig und als öffentlicher Park konzipiert.

Das Ensemble der drei Seebahnhöfe hat im Quartier eine herausragende Bedeutung. Nur hier gibt es eine städtebauliche Artikulation, die über die einzelne Bebauung hinausreicht und die Höfe miteinander in Beziehung setzt. Ihre Architektur schillert zwischen übergreifender Gemeinsamkeit und hofspezifischer Identität. Dieses Wechselspiel verleiht dem Ensemble nicht nur eine besondere Qualität, sondern fördert gleichermassen die Identifikation der Bewohner*innen mit ihrem eigenen Hof sowie den Zusammenhalt mit den anderen Höfen. Die städtebaulichen und architektonischen Mittel zeugen von der Gesellschaftskonzeption dieser selbstbewussten proletarischen Architektur. Mit den geplanten Ersatzneubauten droht dieses Stück Geschichte und Selbstverständnis des Quartiers verloren zu gehen. Angesichts des herausragenden Werts des Ensembles sollte ein Abriss ausgeschlossen sein. Dass dies in Zürich nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint, ist bedenklich.

Sebastian Bietenhader für die Gruppe ‹LAUS›

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