Generationenwohnen im Gespräch
Vier Expertinnen reden über das Wohnen im Alter, Begegnungs- und Rückzugsräume, Verantwortlichkeiten und Einfamilienhäuser – und wie sie selbst im Alter leben möchten.
Was bedeutet Generationenwohnen heute?
Marie Glaser: Generationenwohnen heisst, nicht nur für ältere Menschen zu bauen, sondern für ein breites Altersspektrum. Der Ausgangspunkt des Generationenwohnens ist das Wohnen im Alter. Die Frage ist: Wie können wir hindernisfreies, altersgerechtes Bauen im architektonischen Raum menschengerecht umsetzen ? Meine Antwort ist einfach: Unter Anwendung des Konzepts ‹Design für alle›. Von diesem Planungsansatz sind wir leider noch weit entfernt.
Fleur Jaccard: Der Begriff Generationenhaus wird fast schon inflationär verwendet. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich lediglich die Zusammensetzung verändert hat: Früher wohnten mehrere Generationen einer Familie unter einem Dach. Heute ist die Familie ein individualisiertes Konglomerat, dessen Mitglieder oft über verschiedene Orte verteilt leben. Im Generationenhaus finden heute Menschen zueinander, die nicht verwandt sind. Erfolgsfaktoren sind der Wohnungsmix, bauliche Aspekte und vor allem Begegnungsmöglichkeiten. Laut einer Umfrage wünschen sich knapp 70 Prozent der Menschen beim Wohnen eine gute Nachbarschaft. Wie also diese gestalten und möglich machen?
Leonie Pock: Ich plädiere trotzdem dafür, den Begriff Generationenwohnen weiterhin zu verwenden, denn er stellt den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum. Wichtig ist, die Durchmischung und die Gemeinschaft aktiv zu fördern, allenfalls mit einer Siedlungsassistenz, und es braucht verschiedene Grundrisse und Wohnungsgrössen. Sie gewährleisten, dass man entspannt im Generationenwohnhaus bleiben kann, auch wenn man älter wird oder als Familie Zuwachs bekommt. Nur so können langfristige Beziehungen entstehen.
Generationenwohnen ist also vielmehr als soziale Gestaltungsaufgabe zu verstehen?
Fleur Jaccard: Ja, Generationenwohnen benötigt Anreize, um nachbarschaftliche Beziehungen zu fördern. Es gilt, kluge Begegnungs- und Gemeinschaftsräume, aber auch Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen. Beziehungen sind dynamisch, sie erfordern Vertrauen, Zeit und gemeinsame Aktivitäten. Generationenwohnen bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit sehr vielfältigen Bedürfnissen. Je besser unterschiedliche Erwartungen formuliert und ausgehandelt werden, desto einfacher und reicher wird das Zusammenleben.
Welche Rolle spielen die Begegnungs- und Rückzugsräume in der Residenza St. Joseph?
Doris Neuhäusler: Eine grosse, aber es geht nicht um diese Räume allein. Als institutionelle Anlegerin denkt die Sammelstiftung Vita vielmehr in räumlichen und gesellschaftlichen Konglomeraten. Bauen wir in einem gewachsenen Quartier, geht es um das Mitdenken des Bestands und darum, an ihn Anschluss zu finden. Wir versuchen, einen Neubau von Anfang an als lebendiges, organisches Ganzes zu denken und so früh wie möglich in die Planung einzusteigen. Es geht darum, ein Generationenhaus sowohl während der Realisierung als auch in der Betriebsphase als Organismus zu verstehen.
Leonie Pock: Am ETH Wohnforum haben wir 19 verschiedene Generationenwohnprojekte analysiert, die zwischen 1970 und 2017 gebaut wurden. Die Ergebnisse bestätigen die tragende Rolle der Gemeinschaftsräume. Wichtig ist zudem die Gestaltung von Erschliessungsflächen, auf denen man sich sieht und einfach miteinander in Kontakt kommt. Unsere Studie hat aber auch gezeigt, dass solche Räume noch kein generationenübergreifendes Zusammenleben garantieren. Dafür müssen sie intensiv genutzt werden. Das erreicht man etwa durch Verknappung, also zum Beispiel, dass nicht alle eine eigene Waschmaschine oder im Extremfall eine eigene Küche in der Wohnung haben.
Und welche Rolle spielt das Wohnumfeld?
Marie Glaser: Für ältere Menschen, Kinder oder Personen mit eingeschränkter Mobilität eine grosse, denn ihr Bewegungsradius ist kleiner, in ihrer Wohnung, aber auch im direkten Wohnumfeld. Deshalb muss die Wohnumgebung ebenso hindernisfrei gestaltet sein wie die Wohnung selbst. Wenn Hindernisse abgebaut werden, kann der Bewegungsradius zunehmen. Architektinnen und Planer müssen viel mehr über die privaten vier Wände hinausdenken und die Verbindungen ins Quartier und in die Stadt mitplanen. Im Wohnumfeld braucht es gute Angebote des öffentlichen Verkehrs und zu Fuss erreichbare öffentliche Begegnungsräume für angenehme Aufenthalte. Generationenwohnen heisst, in vielen Dimensionen zu denken.
Seit 2022 ist Marie Glaser (52) Leiterin des Bereichs Grundlagen Wohnen und Immobilien des Bundesamts für Wohnungswesen. Davor leitete sie das Forschungszentrum ETH Wohnforum – ETH Case. Glaser hat in München, Washington DC und Wien Europäische Kulturanthropologie und Literaturwissenschaft studiert und verfügt über eine Ausbildung in inter- und transdisziplinärer Forschungszusammenarbeit sowie in Museumswissenschaft.
Eingangs haben Sie gesagt, dass wir beim hindernisfreien Bauen oder beim ‹Design für alle› noch lange nicht dort seien, wo wir sein sollten. Nun sagen Sie, dass für gutes Wohnen im Alter auch noch das Wohnumfeld mitgedacht werden muss. Kosten darf das Ganze natürlich auch nicht mehr. Haben wir ein Problem?
Marie Glaser: Tatsächlich kann es einen Konflikt geben zwischen Sozialverträglichkeit und ökonomischer Bilanz. Denn das Gestalten von barrierefreiem Wohnen und einem entsprechenden Wohnumfeld bedingt am Anfang höhere Investitionen. Längerfristig zahlt es sich aber aus, weil es keiner späteren Nachbesserungen bedarf. Für die Zukunft benötigen wir ein grosses Angebot an altersgerechtem und kostengünstigem Wohnraum, vor allem für ältere Personen mit kleinem Budget und insbesondere für die Frauen. Vielleicht ist es sinnvoll, projektspezifisch zu überlegen, ob es Lösungen gibt, die beide Ziele erreichen, etwa bei Sanierungen nicht in allen Gebäuden einen Lift einzubauen, um dafür eine gewisse Anzahl Wohnungen weiterhin günstig vermieten zu können. Wohnbauten, die mit Mitteln aus der Wohnraumförderung des Bundes neu gebaut werden, müssen den Anforderungen des barrierefreien Bauens nach der Norm SIA 500 entsprechen. Darüber hinaus erfüllen viele den LEA-Standard ( Living Every Age ). Damit entsteht ein Grundstock an altersgerechtem Wohnraum. Aber das reicht nicht.
Wie viel mehr kostet barrierefreies Wohnen?
Doris Neuhäusler: Im Verhältnis zu den Investitionskosten sind die Mehrkosten marginal. Neue Wohnformen wie das Generationenwohnen bieten eine Gelegenheit, zugunsten von Nutzerinnen und Nachbarn mehr in die interdisziplinäre Denkarbeit zu investieren – zu Beginn des Entwicklungs- und Planungsprozesses liegt hier der grösste Hebel. Während des gesamten Lebenszyklus einer Immobilie braucht es mehr als Architektur, etwa Sozialraum-, Zielgruppen-, Betriebs- und Bewirtschaftungsexpertise. Diese Interdisziplinarität fordert uns im positiven Sinn heraus. Und wir machen Erfahrungen, die in andere Wohnkonzepte einfliessen können.
Was passiert, wenn wir das Thema Wohnen im Alter nicht auf allen Ebenen anpacken?
Fleur Jaccard: In der Schweiz wird jede zehnte Person ab 65 Jahren ohne betreuende Angehörige sein, etwa weil sie kinderlos ist oder die Partnerin verstorben ist. Bei Fragilität sind diese Menschen besonders auf externe Betreuung angewiesen. Die Betreuung hängt aber von den finanziellen Ressourcen ab. Vor dem Hintergrund der steigenden Miet- und Lebenskosten und des Mangels an bezahlbarem Wohnraum verstärkt sich das Armutsrisiko für ältere Menschen. Zudem zeigen alleinlebende Menschen im Alter ein hohes Einsamkeitsrisiko.
Marie Glaser: Das bedeutet auch, dass sich das Angebot an unterschiedlichen Wohnformen vergrössern muss. Wohnbedürfnisse und Wohnpraktiken verändern sich. Ich wohne anders als meine Eltern, und ich werde auch im Alter anders wohnen als sie. Wenn wir über das Wohnen im Alter sprechen, geht es immer auch um gegenwärtige Vorstellungen, in die unsere eigenen Vorstellungen eingebunden sind. Wenn wir in die Zukunft denken wollen, müssen wir bereit sein, unsere Vorstellungen zu hinterfragen.
Wohnraum gibt es eigentlich genug, nur wird er zu wenig effizient genutzt. Ein Drittel der über 65-Jährigen lebt allein auf durchschnittlich 90 Quadratmetern. Welche Antworten gibt das Generationenwohnen darauf?
Marie Glaser: Heute wird das Einfamilienhaus oft nicht mehr innerhalb der Familie weitergegeben. Die Jüngeren verlassen wegen der Ausbildung oder der Arbeit den Wohnort ihrer Kindheit und kehren oft nicht mehr zurück. In der Folge bleiben die Eltern in ihren Einfamilienhäusern. Mangels alternativer Angebote oder wegen der höheren Mietkosten eines neuen Objekts entscheiden sie sich gegen einen Umzug. Wenn der Partner stirbt, bleiben sie allein zurück. Aber auch sie möchten weiterhin sozial eingebettet leben. Ich gehe davon aus, dass sich das Generationenwohnen oder andere Formen des Zusammenlebens, etwa gemeinde- oder dorfübergreifend, vor allem auf dem Land etablieren kann. Denn diese Wohnformen reagieren auf ein Bedürfnis. Vielleicht führen sie auch dazu, dass jüngere Familien am Ort bleiben oder zuziehen, weil durch den Wechsel der älteren Personen in altersgerechte Objekte Häuser oder grössere Wohnungen frei werden.
Doris Neuhäusler: Besonders sinnvoll sind Generationenwohnprojekte in ländlichen Zentrumsgemeinden mit einem bereits bestehenden Angebot an Gesundheitsversorgung und Konsummöglichkeiten, Bildungs-, Kultur-, Sport- und Freizeitangeboten. Wie in Ilanz, einer Zentrumsgemeinde in der Surselva, wo die Bewohnerschaft der Residenza St. Joseph von einem breiten Angebot profitiert, das bereits vorhanden ist.
Doris Neuhäusler (53) ist Projektleiterin für strategische Immobilienprojekte bei der Sammelstiftung Vita. Seit mehr als 30 Jahren befasst sie sich in unterschiedlichen Massstabsebenen und gesellschaftlichen Dimensionen mit dem Thema Wohnen: Regional-, Gemeinde-, Areal- und Quartierentwicklung, Wohn- und Nutzungskonzepte, Innenarchitektur-, Einrichtungs-, Farb-, Licht- und Designkonzepte. Das Räumliche kombiniert sie mit Sprache und Bild – eine fortlaufende persönliche und berufliche Entwicklungsreise.
Das Generationenwohnen löst das Problem der Einfamilienhausgebiete aus den 1960er- und 1970er-Jahren aber nicht. Was passiert damit?
Marie Glaser: Sie haben eine alternde Substanz und eine alternde Bewohnerschaft. In Städten und Agglomerationsgemeinden bleiben Einfamilienhäuser aber stark gefragt. In ländlichen Regionen ist die Nachfrage geringer. Dort könnte es problematisch werden, auch weil ausserhalb der Zentren laufend Infrastrukturen wie Post, Bank oder Läden verloren gehen. Es gibt Ansätze zur kleinräumigen Nachverdichtung von Einfamilienhaussiedlungen, etwa ‹Metamorphouse› der Architektin Mariette Beyeler.
Sie haben jetzt die Nachfrageseite beschrieben. Wer ist für das Angebot zuständig? Wer sollte sich um das Thema kümmern?
Fleur Jaccard: Wir alle zusammen. Stiftungen spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie unabhängig agieren können. Sie sind der Gemeinnützigkeit verpflichtet und funktionieren oft als Pioniere. Sie können Mittel bereitstellen, etwas ausprobieren und formen, die Lernprozesse fördern. Die Age-Stiftung etwa hat in ihrer öffentlichen Datenbank 61 Projekte in der Rubrik Mehrgenerationenwohnen dokumentiert – ein grosser Schatz an Erfahrungswissen.
Marie Glaser: Alle Ebenen sollten zusammenarbeiten. Auf der lokalen Ebene liegt die Verantwortung bei den Gemeinden und den privaten Bauträgerschaften. Die Frage ist: Wie kommt das Erfahrungswissen etwa der Age-Stiftung zu ihnen ? In welcher Form kann man es weitergeben, damit die Entscheidungsträger erfahren, dass verschiedene Formen des Zusammenwohnens im Alter realisierbar sind ? Dass es Beratung und Hilfe bei der Umsetzung gibt ? Hier stehen Bund und Kantone in der Pflicht. Sie informieren, beraten, unterstützen und vernetzen. Im Rahmen seines Forschungsprogramms unterstützt das Bundesamt für Wohnungswesen ( BWO ) Studien und Referenzprojekte zum Wohnen im Alter, unter anderem das Projekt des ETH Wohnforums zum Generationenwohnen. Zudem betreut das BWO gemeinsam mit weiteren Bundesämtern den Themenschwerpunkt ‹Demografischer Wandel: Wohn- und Lebensraum für morgen› des Programms ‹Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung 2020 – 2024›. Sechs Projekte mit lokalen, regionalen und kantonalen Akteuren setzen innovative Ansätze um. Der Bund ist daran, Wissen daraus weiterzugeben.
Ein dreijähriges Forschungsprojekt des ETH Wohnforums untersucht 19 Generationenwohnprojekte, die zwischen den frühen 1970er-Jahren und 2017 entstanden sind. Welche Unterstützung bekamen die Macherinnen und Macher der untersuchten Wohnprojekte damals?
Leonie Pock: Viele Pioniere verfügten über relativ grosse zeitliche, finanzielle und soziale Ressourcen. Sie hatten bereits viele Kontakte und viel Know-how und kamen mehrheitlich aus gebildeten Schichten. Und sie wussten, wo es Fördertöpfe gibt und gab. Wer diese Ressourcen nicht hat, sitzt auf dem Trockenen. Deshalb ist der Trend zu neuen intergenerationellen Wohnformen begrüssenswert. Generationenwohnen darf ruhig im Mainstream ankommen.
Sprechen wir noch einmal über die Residenza St. Joseph in Ilanz. Wie hat die Gemeinde auf das Projekt reagiert?
Doris Neuhäusler: Wir hatten Glück. Die damalige Gemeindepräsidentin war bereits in der Thematik drin und hat sich für das Projekt eingesetzt. Sie hat erkannt, dass Ilanz als Zentrumsgemeinde der richtige Ort dafür ist, dass Anknüpfungspunkte vorhanden sind und wo unser Generationenhaus Mehrwerte generieren kann. Die Gemeinde hat die Baubewilligung mit einer darin explizit genannten Realisierungsverpflichtung erteilt: Wohnungen für älter werdende Menschen. Die Sammelstiftung Vita investiert aber nicht nur in Ilanz. Für uns stellt sich jeweils die Frage: Nimmt die Gemeinde als erste Ansprechpartnerin eine proaktive Rolle ein oder nicht ? Weil das auf kommunaler Ebene von den Personen abhängt, die in der politischen Verantwortung stehen, würde ich eine Alterspolitik auf Bundesebene beziehungsweise ein nationales Programm für das Wohnen im Alter begrüssen.
Marie Glaser: In einem Bericht des Bundesrats wurden 2007 Leitlinien unter anderem zur Wohnsituation älterer Menschen als Grundlage für eine schweizerische Alterspolitik beschrieben. Die ‹Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung› sieht vor, dass die Stadtentwicklung inklusiver und nachhaltiger gestaltet werden soll. Zudem soll der Zugang zu sicheren und inklusiven Grünflächen und öffentlichen Räumen gewährleistet werden, besonders für Frauen und Kinder, ältere Menschen und Personen mit Behinderungen. Auch der Zugang zu sicherem und bezahlbarem Wohnraum und ebensolchen Transportsystemen soll sichergestellt werden. Die Nachhaltigkeitsstrategie 2030 des Bundes greift hier ein. Wichtiges Anliegen muss es sein, dass Gemeindevertreterinnen keine Scheu vor diesem Thema haben und das Wohnen im Alter in ihrer Gemeinde aktiv angehen.
Fleur Jaccard: Ich frage mich aber schon, wieso die Alterspolitik nicht in die Strategie der Wohnraumförderung integriert ist. Disziplinenübergreifenden Fragen wie diesen hilft das föderale System der Schweiz nicht wirklich.
Fleur Jaccard (48) ist Geschäftsführerin der Age-Stiftung. Die Ethnologin und diplomierte NPO-Managerin hat langjährige Erfahrung in der Philanthropie, im Stiftungsmanagement und in der Beratung bei strategischen und operativen Fragen. Sie war Leiterin der Abteilung Soziales und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Christoph Merian Stiftung, davor Leiterin der Abteilung Public Affairs bei Unicef Schweiz und Koordinatorin Integrationsförderung bei der Fachstelle Integration und Antidiskriminierung des Kantons Basel-Stadt.
Ich habe mit meiner Mutter über das Thema gesprochen. Sie ist der Meinung, eine verstärkte Integration der Alten in die Gesellschaft sei die Aufgabe der jüngeren Generation. Am ETH Wohnforum sagte eine Altersforscherin das Gegenteil: Die Alten sollten sich für generationenübergreifende Wohnformen engagieren.
Leonie Pock: Ich bin schon der Meinung, dass es die Aufgabe der vorherigen Generationen ist, dafür zu sorgen, dass die Nachkommenden noch eine Lebensgrundlage haben. Das Wohnen gehört für mich auch dazu. Jüngere Menschen haben keine Ressourcen und keine Möglichkeiten, zu bestimmen, was jetzt gebaut wird. Gleichzeitig darf die Diskussion nicht polar werden – das Generationenwohnen muss gemeinsam gedacht werden. Nur dann profitieren alle.
Fleur Jaccard: Ich bezweifle, dass es für Junge genauso wichtig ist, generationendurchmischt zu wohnen, wie für die Älteren. Das Schreckgespenst vieler älterer Menschen ist es, mit ihresgleichen zusammenzuleben. Besonders wenn sie auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, scheint sich das Bedürfnis nach Durchmischung zu verstärken. Für den sozialen Zusammenhalt ist es wichtig, die Durchmischung auf allen Ebenen zu fördern. Segregation gefährdet das Zusammenleben: Was ich nicht kenne, führt zu Ängsten und Projektionen.
Marie Glaser: Es braucht ein Umdenken im Füreinander-Sorgen. Familiäre Beziehungen gehen geografisch auseinander und lockern sich. Beziehungen und Freundschaften ausserhalb der Familie, sogenannte Wahlverwandtschaften, werden relevanter.
Welche Generationenwohnprojekte aus der Untersuchung des ETH Wohnforums haben am besten funktioniert?
Leonie Pock: Die, die beim Miteinander den Schwerpunkt nicht auf das Alter gelegt, sondern einfach gemeinsame Interessen gefördert haben, etwa durch Gemeinschaftsgärten oder gemeinschaftlich genutzte Räume. Hier kann eine Siedlungsassistenz für Verbindungen sorgen oder helfen, Hemmungen abzubauen. Wichtig ist, dass die Gemeinschaft nicht nur in den ersten Jahren betreut wird. Die sozialen Prozesse müssen nicht nur aufgegleist, sondern langfristig betreut werden. Nicht leisten können Mitbewohner Pflegetätigkeiten. Sie übersteigen die Kompetenzen eines Generationenhauses.
Die Anthropologin Leonie Pock (37) arbeitet seit 2021 am ETH Wohnforum – ETH Case. In einem dreijährigen praxisbasierten Forschungsprojekt forscht sie zum Thema Generationenwohnen. Zeitgleich arbeitet sie an einem Film, der diese Wohnform einem breiteren Publikum vorstellen soll und Ende 2023 zu sehen sein wird. Davor arbeitete sie zwei Jahre in der internationalen Zusammenarbeit und verbrachte fünf Monate als freiwillige Menschenrechtsbeobachterin in Kolumbien.
Welche Rolle spielt die Gestaltung der näheren Wohnumgebung?
Fleur Jaccard: Das Wohnumfeld ist zentral für das Wohlbefinden der Menschen, doch Grünflächen und Erholungsgebiete geraten unter Druck. Vielerorts wird verdichtet, und immer mehr Menschen wohnen immer näher zusammen, weil die Bevölkerung wächst und die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum steigt. Gerade bei grösseren Projekten mangelt es leider oft an einer guten Aufenthaltsqualität. Viel Beton, wenig Schatten und kaum Begegnungsmöglichkeiten, die zum Verweilen einladen. Fehlt die Qualität, gehen die Menschen nicht mehr aus dem Haus.
Doris Neuhäusler: Als halböffentlicher Raum spielt das Wohnumfeld eine zentrale Rolle für Bewegung und Begegnung im Alltag. Es trägt wesentlich zur Wohnqualität einer Siedlung bei. Leider fällt die Qualitätssicherung von der Raumplanung bis und mit der Baubewilligung durchweg durch die Maschen. Spielplätze ab Stange und unmotiviert platzierte Betontische mit Bänken genügen den baugesetzlichen Anforderungen weitgehend. Wenn sich von der Planung bis und mit der Realisierung einer Wohnsiedlung niemand daran stört oder sich explizit für die Qualität einsetzt, prägt dieses öde Bild während rund 25 Jahren – der Dauer eines Sanierungszyklus – die Ausstrahlung der Siedlung.
Wohnen im Alter ist nicht nur eine Frage des Bauens, sondern auch eine Frage des Mietpreises. Der Referenzzinssatz wurde angehoben, nicht nur für ältere Mieterinnen kann das prekär werden. Wie begegnet die Residenza St. Joseph dieser Problematik ?
Doris Neuhäusler: Als institutionelle Investorin geht die Sammelstiftung Vita treuhänderisch mit dem ihr anvertrauten Vorsorgevermögen um. Für unsere Investitionsobjekte müssen wir eine am jeweiligen Standort marktübliche Rendite erzielen. Diese kann auch mit zielgruppenspezifischen Nutzungskonzepten etwa für älter werdende Menschen erreicht werden. Unsere Antworten sind Preismix und Vielfalt im Wohnungsangebot. Für die Sammelstiftung Vita als wirkungsorientierte Investorin ist es sinnvoll, mehr zu tun als das absolute Minimum. Im Fokus steht für uns die gesellschaftliche Wirkung – wir wollen nicht immer wieder dasselbe reproduzieren.
Wer ist in die Residenza St. Joseph eingezogen?
Doris Neuhäusler: Rund ein Drittel der Bewohner kommt aus der näheren Umgebung, etwas mehr als ein Drittel aus der Region. Der Rest ist aus städtischen Gebieten wie Zürich, Basel, Bern oder dem Aargau zugezogen. Die Hälfte ist noch in der Erwerbsphase, wenige haben Kinder. Die einen sind wegen der Möglichkeit des betreuten Wohnens in die Residenza gezogen, andere wegen der Wohnqualitäten und den Zusatzangeboten zur Privatwohnung wie etwa der Gästewohnung. Im ländlichen Raum sind das neue Angebote.
Wie stellen Sie sich Ihre persönliche Wohnsituation im Alter vor?
Fleur Jaccard: Das hängt von meiner jeweiligen Lebenssituation ab. Vermutlich werde ich eher nicht in einer Alterswohngemeinschaft leben wollen. Am liebsten hätte ich die Möglichkeit, schnell an meine Lieblingsorte zu kommen und zwischendurch in einem Tiny House etwas Ruhe zu finden. Auf jeden Fall werde ich mir an wichtigen Lebensübergängen immer wieder die Frage stellen, was ich brauche und wie ich mich wohlfühle.
Marie Glaser: Ich wünsche mir das, was ich anderen ermöglichen will: Ich möchte im Alter in meinem Quartier wohnen bleiben können, dort am gesellschaftlichen Geschehen teilhaben und diese Wohnform auch bezahlen können.
Doris Neuhäusler: Ich habe lange in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt in Zürich gewohnt und dort die Vorteile einer guten Nachbar- und Hausgemeinschaft erfahren. 2022 bin ich selbst in die Residenza St. Joseph gezogen und habe wiederum gute und spannende Nachbarn gefunden. Als Neuzuzügerin waren sie besonders wichtig, weil ich in der Surselva noch kaum private Kontakte hatte. Heute – ein gutes Jahr später – verstehe ich meine Wohnsituation als eine Art grosse Wohngemeinschaft: Einmal pro Woche treffe ich mich mit den unmittelbar benachbarten Leuten zum gemeinsamen Kochen und Essen.
Leonie Pock: Bei den Interviews im Rahmen meiner Recherche habe ich festgestellt, dass die Menschen alle sehr zufrieden waren und diese Wohnform ihnen ganz viel ermöglicht. Deshalb könnte ich mir eine solche gemeinschaftliche Wohnform ebenfalls gut vorstellen. Bei der Recherche habe ich aber auch gelernt: Generationenwohnen eignet sich nicht für alle, denn es ist auch anstrengend. Man muss viel aushalten können, es braucht sehr viel Konfliktfähigkeit und Selbstreflexion.
Dieser Text stammt aus dem Themenheft «Ein Turm fürs Generationenwohnen». Am Beispiel der Residenza St. Joseph in Ilanz thematisiert die Publikation Fragen rund um das Wohnen im Alter.