Konsequent kommuniziert die ETH über bedauerliche Ausnahmen. Zaghaft erkennt sie dahinter die Strukturprobleme. Aber was, wenn Machtmissbrauch nicht interessiert?
Sie sind der wissenschaftliche Stolz der Nation. In den letzten anderthalb Jahren allerdings waren die ETH und die EPFL vor allem wegen Mobbing und sexueller Belästigung in den Medien. Allein an der ETH liefen im letzten Jahr vier formelle Untersuchungen gegen Professoren an den Departementen Architektur, Biosysteme, Physik und Maschinenbau. Im Januar 2019, frisch im Amt als neuer ETH-Präsident, sagt Joël Mesot in der NZZ am Sonntag: «Wir sprechen bei diesen Fällen von einem Prozent der Professorenschaft.»
Diese Zahl bezieht sich auf vier Untersuchungen bei 530 Professoren. Doch im Fall von ‹Professor X› am Architekturdepartement, den die ETH vor drei Wochen zum Entsetzen der Betroffenen vom Vorwurf sexueller Belästigung entlastete, hätte es trotz jahrelangem Fehlverhalten ohne die #MeToo-Bewegung vermutlich keine Untersuchung gegeben. Auch im Fall der Astronomieprofessorin, der im Frühjahr 2018 durch die Medien ging, kam es trotz Demütigungen, Nervenzusammenbrüchen und Blossstellungen während mehr als zehn Jahren erst durch ein seltsames Schauspiel soweit: Der damalige Schulpräsident wollte zunächst keine Untersuchung einleiten. Daraufhin gingen die Ombudspersonen zum ETH-Rat, dem Aufsichtsorgan über die zwei Hochschulen und vier Forschungsanstalten des ETH-Bereichs, der schliesslich eine Untersuchung verfügte. Anschliessend verweigerte der Präsident den Ombudspersonen «aus Altersgründen» eine weitere Amtszeit. Diese sprachen von einer «Retourkutsche». Kurz darauf gab der Präsident seinen eigenen Rücktritt bekannt.
Die Vermutung liegt nahe, es gebe mehr Fehlverhalten als Untersuchungen. Zumindest in der Vergangenheit löste man die Probleme stets diskret und intern. Erstaunlich offen sagt Renate Schubert, Delegierte der Fachstelle Chancengleichheit, im Oktober 2018 an einer internen Veranstaltung des Architekturdepartements, die die ‹Wochenzeitung WOZ› besuchte: In der Vergangenheit sei es zu viel schlimmeren Fällen als dem aktuellen gekommen. «Man hat in solchen Fällen den involvierten Professoren etwa nahegelegt, sich frühpensionieren zu lassen. [...] Niemand sollte mitkriegen, dass da was schiefläuft.»
Im Sommer befragte die Mittelbauvereinigung AVETH 1'600 Doktorierende. Die Umfrage stützt die These, die Dunkelziffer sei höher als das kommunizierte eine Prozent: 24 Prozent geben an, Machtmissbrauch zu erleben, und meinen damit in der Regel ungezählte Überstunden, intransparente Löhne, Druck bei Vertragsverhandlungen oder mangelhafte Betreuung. Sieben Prozent würden Probleme aus Angst nicht zu den ETH-Anlaufstellen tragen. Vier Prozent beklagen Mobbing, Respektlosigkeit und emotionalen Druck – Dinge, die der ‹Verhaltenskodex Respekt› nebst Diskriminierung und sexueller Belästigung als Fehlverhalten definiert.
Die Doktorandenumfrage ist ein erster Anhaltspunkt für die Zustände an der ETH. In den USA untersucht man zumindest sexuelle Belästigung detaillierter. 2015 veröffentlichte die ‹Association of American Universities› erstmals einen umfassenden und öffentlich zugänglichen ‹Campus Climate Survey on Sexual Assault and Sexual Misconduct›, der 2019 zum zweiten Mal erscheinen wird. 2014 schreibt die ETH in ihrem ‹Gender Action Plan›, künftig werde «in regelmässigen Abständen» eine Befragung durchgeführt, «um das Ausmass sexueller Belästigungen und Diskriminierungen [...] und den Handlungsbedarf [...] besser abschätzen zu können». Ob man solche einsehen dürfe, beantwortet die Medienstelle nicht, verweist aber auf die letzte Mitarbeiterbefragung im Jahr 2016. Wo negative Rückmeldungen auffielen, habe man mit den Verantwortlichen, etwa den Departementsvorstehenden, das Gespräch gesucht.
Der Faktor Macht in Machtmissbrauch
Hinter der Ein-Prozent-Kulisse beginnt die Hochschule zaghaft zu handeln. Im Februar 2018 startete sie das ‹Projekt Führung›. Die Bilanz ein Jahr später kommuniziert die Medienstelle folgendermassen: Die Ombudsstelle ist von zwei auf drei Personen aufgestockt, ein ‹Case Manager› ist engagiert. In obligatorischen Kursen sollen Doktorierende ihre Rechte und Pflichten lernen. Den Vorgesetzten wird ein mehrtägiger Führungskurs «empfohlen». Doktoratsprogramme werden «intern diskutiert». Weitere Dinge werden «laufend erarbeitet und eingeführt». Angesichts der überschaubaren handfesten Resultate, darf man gespannt erwarten, welche Massnahmen die ETH in nächster Zeit beschliessen wird.
Im Interview mit Joël Mesot, das den Abschluss der Untersuchung gegen Professor X begleitet, sagt der ETH-Präsident: «Es hat sich gezeigt, dass wir diese Richtlinien [den ‹Compliance Guide› und den ‹Verhaltenskodex Respekt›] innerhalb der ETH noch besser verankern müssen. [...] Zudem müssen wir genau hinschauen und angemessen handeln, wenn Angehörige der ETH Zürich gegen unsere Compliance-Richtlinien verstossen. Verstösse müssen Konsequenzen haben. Ein zweites Learning ist für mich, dass wir unsere Prozesse, wie wir an der ETH mit Meldungen zu unkorrektem Verhalten umgehen, verbessern müssen. [...] Wir sollten aber auch ganz neue Ansätze diskutieren. Zum Beispiel, ob wir eine externe, unabhängige Meldestelle für sexuelle Belästigung einrichten wollen».
Aktuell ist die Fachstelle Chancengleichheit direkt dem ETH-Präsidenten unterstellt. Als Leiterin engagiert sich nebenamtlich eine Professorin für Nationalökonomie. 120 Stellenprozente verteilen sich mitunter auf eine Biologin und eine Philosophin. Ob diese die Fragen bezüglich Anonymität, Opferschutz und Rechtsbeistand klären sollen, die in der chaotischen Untersuchung gegen Professor X noch offen waren?
Nebst dem Umgang mit Machtmissbrauch stellen sich strukturelle Fragen. Denn Macht ist ein wichtiger Faktor in der Gleichung von Machtmissbrauch. Wird die ETH die Abhängigkeiten und Machtgefälle verringern, beispielsweise vermehrt auf Graduate Schools und die Co-Betreuung von Doktorierenden setzen? Wird sie verlässlichere Karrierewege gestalten? Wird sie das Gefälle zwischen oftmals bloss einjährigen Assistenzverträgen und den unbefristeten Verträgen ordentlicher Professoren verringern? Wird sie die Beinahe-Unkündbarkeit der Professoren aufweichen? Bleibt sie beim Rotationsprinzip der Departementsvorstehenden, in welchem ein Professor kurzfristig aus der Reihe tritt und dann wieder zurück?
Derweil läuft bis anfangs März die Vernehmlassung zur Teilrevision des ETH-Gesetzes. Aktuell haben die Präsidenten von ETH und EPFL, ein Direktor der vier Forschungsanstalten sowie ein Vertreter der Hochschulversammlung im ETH-Rat uneingeschränktes Stimmrecht. Die Revision schlägt vor, «deren Ausstand in Aufsichtsangelegenheiten auf Gesetzesstufe festzulegen».
Eine Frage der gelebten Kultur
Die meisten Professoren beweisen, dass sich Spitzenforschung und Anstand nicht ausschliessen. Seit 2018 zeichnet die ETH die vorbildlichsten unter ihnen mit dem ‹Art of Leadership Award› aus. Und die schwarzen Schafe? Die Fälle von Professor X und der Astronomieprofessorin zeigen: Die Mehrheit der Anständigen will die Problemfälle nicht wahrhaben und lässt sie gewähren, bis sich der Widerstand von unten nicht länger ignorieren lässt.
Nachdem der Fall der Astronomieprofessorin mediale Wellen geworfen hatte, sprach Antonio Togni, ETH-Prorektor Doktorat, in einem Interview mit dem Online-Magazin ‹Republik› offen über die engen Verbindungen zwischen den Professoren: «Sich gegenseitig auf die Füsse zu stehen, ist heikel. Also wird eher weggeschaut.» Doch wegschauen ist zuschauen, und zuschauen ist ermöglichen: Struktureller Machtmissbrauch heisst nicht, dass alle missbräuchlich handeln, sondern dass die Strukturen jene tolerieren, die es tun.
Oder sind es die Menschen? Die chaotische Handhabe der Untersuchung von Professor X und der überraschende Entscheid tragen kaum dazu bei, eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Schwächsten trauen, Machtmissbrauch zu thematisieren. Ohnehin kann man beliebig viele Regelwerke und Kommissionen einführen, Berichte und Guidelines, Fachstellen und Prozeduren. Letztlich entscheidet die gelebte Kultur: Das ETH-Spitzenpersonal hat sich nie entschuldigt, nie strukturelle Probleme anerkannt und nie fadengerade kommuniziert, dass Fehlverhalten keinen Platz hat. Und wenn es der Professorenschaft an Interesse oder Zivilcourage mangelt, sich untereinander zur Rede zu stellen und korrektes Verhalten einzufordern? Dann wird es schwierig, Strukturen zu bauen, die das wettmachen.
ETH-Report #1: ‹Professor X›
ETH-Report #2: ‹Zehn zu null›
Kündigung beinahe unmöglich
Die Rechtslage ist klar: Die ETH-Professorenverordnung verweist bei den Kündigungsgründen auf das Bundespersonalgesetz, das auch «Mängel in der Leistung oder im Verhalten» auflistet. Letztlich geht es um die Frage der Angemessenheit: Beurteilt die ETH das Fehlverhalten eines Professors als gravierend genug, spricht sie eine Kündigung aus. So weit die Theorie. In der Praxis hat sich die ETH in ihrer 163-jährigen Geschichte noch nie von einem Professor per Kündigungsverfahren getrennt.
Der Weg zu einer Kündigung ist lang und kompliziert: Zunächst sammeln die ETH-Anlaufstellen Aussagen von Betroffenen zuhanden der Schulleitung. Sieht diese einen Handlungsbedarf, nutzt sie ihre personalrechtlichen Möglichkeiten oder beauftragt weitere Vorabklärungen. Aufgrund dieser entscheiden der Präsident und die Schulleitung, ob sie eine Administrativ- oder Disziplinaruntersuchung einleiten. Falls das geschieht, amtet ein unabhängiger Anwalt als Untersuchungsführer und verfasst einen Bericht, in dem er konkrete Massnahmen empfiehlt. Der Präsident kann daraufhin eine Kündigungskommission einsetzen, die die Angemessenheit der Kündigung überprüft. Sie ist besetzt aus drei externen Personen und drei Mitgliedern des Lehrkörpers, allerdings aus einem anderen Departement als die beschuldigte Person. Die Kommission gibt wiederum eine Empfehlung an den Präsidenten ab, die dieser mit seinem eigenen Antrag dem ETH-Rat vorlegt. Dieser ist formaljuristisch der Arbeitgeber der Professorenschaft und entscheidet schliesslich über eine mögliche Kündigung.
Im Oktober 2018 leitete die ETH gegen eine Astronomieprofessorin das erste Kündigungsverfahren ihrer Geschichte ein. Falls eine Kündigung ausgesprochen wird, gilt eine Kündigungsfrist von sechs Monaten. Im Dezember hat der Nationalrat eine Motion abgelehnt, die die Schlaufe des Kündigungsverfahrens mit Kommission aus der Professorenverordnung streichen wollte.