Gemauerte Kraft im Stickereiquartier in St. Gallen: Pilaster und Brüstungen des Neubaus werden nach oben schmaler, die Fenster grösser.
Fotos: Roger Frei
Prächtige Geschäftshäuser aus den 1910er-Jahren prägen das Stickereiquartier in St. Gallen. Und ein Neubau, der von ihnen gelernt hat, innen wie aussen.
«Wie Riesendampfer» ankerten die Geschäftshäuser in der westlichen Vorstadt von St. Gallen. Dies schrieb kein Literat, sondern die Verfasser des Inventars der neueren Schweizer Architektur (INSA), sonst der blumigen Worte unverdächtig. Und tatsächlich heissen die prächtigen Häuser im Stickereiquartier ‹Pacific›, ‹Atlantic› oder ‹Florida›. Hier kulminierte in den 1910er-Jahren das, was sich ab 1860 zum Weltzentrum der Maschinenstickerei entwickelt hatte. Produziert wurde zwar auf dem Land, die Handelshäuser aber ballten sich in der Nähe von Bahnhof und Postamt. Die Bauweise hatten ihre St. Galler Bauherren dorther importiert, wohin sie sonst fleissig exportierten: aus den USA. Vor ingeniösen Eisenbetonskeletten spannt sich, dünn aber stolz, eine Haut aus Sandstein oder Ziegel. Bekannte Architekten, wie Pfleghard & Haefeli oder Curjel & Moser, holten den Grossstadt-Atem von Chicago, Berlin und Wien in die Ostschweiz. Und machten ihn kompatibel mit dem gerade aufkommenden Heimatschutz.Inmitten dieser Stickereipaläste steht nun ein Neubau. Er löst keine maritimen Assoziationen aus, doch klingen die historischen Nachbarn in ihm nach. In seinen grossen Fenstern, im gelben Backstein oder im schmalen Graben zwischen Haus und Strasse, der das Licht bis ins erste Untergeschoss fallen lässt. Wie seine hundertjährigen Vorgänger betritt man den Neubau über eine Brücke, die diesen Graben überwindet, und wie bei ihnen bildet ein zweites Untergeschoss an der Rück- und Talseite des Hauses ein zweites, informelles Eingangsgeschoss. Der Ortsbildschutz des Stickereiquartiers gab das Volumen des Hauses weitgehend vor. Links schliesst das Haus an seinen alten Nachbarn an, hinter dessen anderem Ende eine Treppenanlage barock geschwungen den steilen Hang hinunter zum Bahnhof führt. Die Parzelle rechts vom Neubau ist üppig grün bewachsen – so sah vorher auch das neu ...
Chicago in der Ostschweiz
Prächtige Geschäftshäuser aus den 1910er-Jahren prägen das Stickereiquartier in St. Gallen. Und ein Neubau, der von ihnen gelernt hat, innen wie aussen.
Axel Simon 29.11.2017 14:00