Die Treppen im Zürcher Toni-Areal und jene in der FHNW in Muttenz erhielten für ihre markante Form viel Lob. Heute zeigt sich: Die eine wird rege benutzt, die andere kaum. Das hat architektonische Gründe.
Wer die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Muttenz betritt, blickt unweigerlich nach oben. Durch das fast sakral wirkende Atrium führen kreuz und quer lang gezogene Treppen nach oben. Vom Erdgeschoss aus erschliessen sie Hörsäle und Seminarräume und enden im dritten Obergeschoss. Dort liegt die lichtdurchflutete Beletage mit der öffentlichen Bibliothek. Darüber türmen sich die Räumlichkeiten der einzelnen Institute um zwei Lichthöfe herum. «Die Treppen sollen das Atrium begehbar und erlebbar machen», sagt André Schmid von Pool Architekten. Bei der Planung stellte er sich vor, wie Studierende, Lehrende und Gäste sich auf den umlaufenden Galerien und Stufen begegnen und innehalten. «Es ging uns nicht darum, möglichst schnell oben anzukommen.»
Der erste Eindruck zählt
Ganz anders die Situation im Toni-Areal in Zürich, dem Hauptgebäude der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), entworfen von EM2N Architekten. In der ehemaligen Joghurtfabrik entstanden – einem Quartier ähnlich – Strassen, Wege und Plätze. «Die Kaskadentreppe als Haupterschliessung führt wie ein Boulevard durch das Gebäude», sagt Architekt Christof Zollinger. Wie selbstverständlich zieht die Treppe die Menschen vom Foyer in die oberen Stockwerke. Wie schafft sie das – und warum gelingt das der Treppenskulptur in Muttenz nicht?
Anders als gewohnt
Leicht erscheint auch die Treppenskulptur in Muttenz – trotz ihrer schweren Betonwangen. Eine Lichtlinie unter dem Handlauf beleuchtet die vorfabrizierten Stufen aus hellem Terrazzo. Sie macht die Steigungen besser erkennbar, was die Sicherheit erhöht. Schaut man vom Atrium in die Höhe, schimmert das Licht zwischen den Stufen hindurch. Doch aufgrund der Anordnung wird die Treppe kaum intuitiv genutzt. «Man muss zuerst überlegen, welche Treppe einen an den richtigen Ort führt», meint Christina Schumacher. Dazu kommt: Im Foyer befinden sich ganze zwölf Liftanlagen, für jede Himmelsrichtung drei – das ist nötig für ein Hochhaus mit 13 Obergeschossen. «Wir wollten niemanden ausschliessen, indem wir die Lifte weit weg und versteckt platzieren», sagt Architekt André Schmid.
Christina Schumacher und Carlo Fabian sehen zudem ein Problem im Trittverhältnis (siehe ‹Das ideale Trittverhältnis›): Die Treppe sei unbequem, die Steigung zu flach und die Tritte zu lang. Man komme kaum vorwärts. Zum Stehenbleiben wiederum wirke der Platz zwischen den Brüstungen zu schmal. Die befragten Studierenden bestätigen diesen Eindruck. Sportwissenschaftlerin Julia Schmid: «Häufig empfinden wir Bewegungen, an die wir uns gewöhnt haben und die deshalb automatisch ablaufen, als angenehm. Sind Treppenstufen anders als gewohnt – niedriger, weiter oder höher – ist das unangenehm, weil wir aus dem üblichen Bewegungsmuster fallen. Und was man nicht mag, wiederholt man nicht.»
Zwischenhalte und Treffpunkte
Die lang gezogenen Stufen in Muttenz haben lange Treppen zur Folge, allein bis ins erste Obergeschoss sind 59 Steigungen zu bewältigen. Auf ein Podest, das in Baunormen spätestens nach 18 Stufen gefordert wird, verzichteten die Architekten; für die Ausnahmebewilligung zeigten sie in einem 35-seitigen Dossier, warum Podeste hier nicht notwendig seien. So hätten Studien gezeigt, dass die meisten Stürze beim Rhythmuswechsel passieren. Hinzu komme, dass eine geringe Steigung die Verletzungsgefahr bei Stürzen erheblich reduziere. Doch Christina Schumacher hätte ein Podest geholfen, um innezuhalten und wieder Tritt zu fassen – gerade wenn sie zwei Stufen auf einmal nimmt. Julia Schmid sieht im Einplanen von Podesten ebenfalls Vorteile: «Menschen, die sich allgemein wenig bewegen, trauen sich das Treppenlaufen manchmal nicht zu. Eine gute Gestaltung zeigt ihnen, dass sie zwischendurch einen Halt einlegen können und die vermeintliche Herausforderung dadurch machbar wird.» Warten auf dem Podest auch noch Sessel und Bänke, wird der Ort des Zwischenhalts sogar zum Treffpunkt. Hilfreich ist auch eine ausreichende Breite: «Bei schmalen Treppen haben manche Angst, dass sie andere aufhalten, wenn sie eine Pause einlegen müssen», so Schmid.
Die Kaskadentreppe im Toni-Areal spielt mit grossen und kleineren Podesten und ist so in Abschnitte unterteilt. Jeder Treppenlauf weist ein Zwischenpodest auf. Die Stockwerke bilden Plattformen, die auch als Pausenplatz genutzt werden. In der Mitte der Kaskadentreppe gibt es eine grosszügige Ausstellungs- und Veranstaltungsfläche. Von dort geht es über eine abgetreppte Tribüne in dunklem Holz weiter; sie dient bei Vorträgen auch zum Sitzen. Die beiden Innenhöfe sorgen für Tageslicht und Ausblick: Von der Treppe aus kann man in die Sonne blinzeln oder beobachten, wie im Ballettsaal Tänzer üben. Auf der ausladend breiten Kaskadentreppe ist alles gleichzeitig möglich.
Das Wichtigste in Kürze: Sichtbar platzieren und am besten ein gewöhnliches Trittverhältnis wählen
– Eine Treppe muss neben der Ästhetik auch einen Beitrag an das Soziale, die Umwelt und die Gesundheit leisten.
– Sind die Treppen prominenter platziert als Lifte und Rolltreppen, wählt man sie eher.
– Das Ziel zählt: Treppen sollen direkt zu den wichtigen Räumen führen.
– Das Auge bewegt mit: Eine Treppe soll sichtbar und beleuchtet sein. Man soll intuitiv erfassen, welchen Weg sie anbietet.
– Gute Proportionen lassen die Bewegungen fliessen: Das Trittverhältnis einer Treppe ist am besten recht gewöhnlich; eine ausreichende Breite ist wichtig, weil sie das Kreuzen ermöglicht.
– Podeste laden zum Innehalten ein – und mit etwas Fantasie auch zu weiteren Nutzungen.
– Treppensteigen trainiert die Atmung, die Po-, Waden- und Oberschenkelmuskeln, ist gut für das Herz, erhöht die Ausdauer, verbessert den Stoffwechsel, steigert die Konzentration, senkt den Blutdruck und den Cholesterinwert – und es macht glücklich. Jede Treppenstufe verlängert das Leben um drei bis vier Sekunden.
Das ideale Trittverhältnis
Für ein gutes Trittverhältnis gibt es verschiedene Berechnungsformeln. Etwa jene zum Schrittmass: zweimal die Steigung (s) plus einmal die Tiefe der Auftrittsfläche (a), also (2 × s + a) = 59 bis 65. Der Spielraum ist allerdings gross: Die Atriumtreppe in Muttenz weist ein Verhältnis von 12 zu 39 Zentimetern auf, diejenige im Toni-Areal von 17,5 zu 28 Zentimetern. Die Formel attestiert beiden Treppen ein identisch gutes Mass (63). Die Bequemlichkeitsformel lautet: Auftrittsfläche (a) minus Steigung (s), also (a − s) = 12. Die Atriumtreppe in Muttenz liegt mit 27 weit davon entfernt, die Kaskadentreppe in Zürich kommt dem Idealwert mit 10,5 deutlich näher.
Neubau Campus Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), 2018
Hofackerstrasse 30, Muttenz BLBauherrschaft: Hochbauamt Kanton Basel-Landschaft; Fachhochschule Nordwestschweiz
Architektur: Pool, Zürich
Landschaftsarchitektur: Studio Vulkan, Zürich
Gesamtkosten (Grund- und Mieterausbau): Fr. 355,4 Mio.
Toni-Areal, Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), 2014
Pfingstweidstrasse 96, Zürich
Bauherrschaft: Allreal, Zürich
Mieter: ZHdK, Zürich; ZHAW, Zürich
Architektur: EM2N, Zürich
Landschaftsarchitektur: Studio Vulkan, Zürich
Anlagekosten: Fr. 532 Mio.