Die Kritik des Zwischengeschosses im Warschauer Zentralbahnhof: «Architektura murator» 10/2016, Seiten 32/33. Fotos: Werner Huber

«Worüber man spricht: Zwischengeschoss im ‹Centralny›»

Die polnischen Staatsbahnen haben mit einem Einbau die Halle des Warschauer Zentralbahnhofs zerstört. Im Oktoberheft von «Architektura murator» steht mein Kommentar dazu.

Vor fünf Jahren hatten die polnischen Staatsbahnen PKP dem Zentralbahnhof in Warschau seinen alten Glanz zurückgegeben. Jetzt haben sie die Halle mit einem Einbau zerstört. In der Rubrik «Worüber man spricht» steht in der aktuellen Ausgabe von «Architektura murator» mein  Kommentar – hier ist er exklusiv auf deutsch.

Das Drama vom Centralny

Nein, mit dem Verstand ist das nicht zu begreifen: Da macht die PKP 2011 aus dem vernachlässigten hässlichen Entlein namens Zentralbahnhof (Dworzec Centralny) einen stolzen weissen Schwan und erntet damit viel Lob im eigenen Land und international. Tatsächlich brachte die «estetyzacja» vom Towarzystwo Projektowe das Meisterwerk von Arseniusz Romanowicz und Piotr Szymaniak zur besten Geltung. Zugegeben, über die schrägen gläsernen Pavillons in der grossen Halle konnte man geteilter Meinung sein. Eigentlich zeigten sie vor allem eines: Die Halle muss leer sein.

Doch was macht die PKP, kaum sind die Lobeslieder über den neuen alten «Centralny» verklungen? Sie zerstört den besten öffentlichen Raum, den Warschau in der Nachkriegszeit erhalten hat. Mit einem Zwischenboden, der so überflüssig ist wie ein Kropf. Allein das ist unbegreiflich; McDonald’s und der Supermarkt Biedronka liessen sich auch auf andere Weise besser erschliessen.

Das Falsche auch noch schlecht gemacht

Nun wäre es ja möglich, dass etwas grundsätzlich Falsches immerhin noch gut gemacht wird. Von einer «leichten Konstruktion, die das bestehende Gebäude kaum berührt» war einst beschwichtigend zu lesen. Doch gemacht hat man genau das Gegenteil. Als erstes wurde die helle, soeben geputzte Decke dunkel gestrichen. Damit hat man die Halle des Lichtes beraubt, so dass nun auch an sonnigen Tagen das Kunstlicht eingeschaltet sein muss. Dann wurde eine Zwischendecke samt Rolltreppe eingebaut, die den Raum zwar nicht auf der ganzen Fläche belegt, ihn aber in Fragmente zerteilt und das restliche Licht auch noch wegnimmt. Und schliesslich (die Investition muss sich ja irgendwie rechnen) wurde wie in den wilden Neunzigerjahren der Raum zwischen den hohen Stützen mit Verkaufspavillons aufgefüllt. Damit hat man die formschönen eleganten Betonstützen ihrer Basis beraubt – ein Sakrileg! Wie wenn das noch nicht genug wäre, wurden schliesslich die grossen Glasflächen auf ihrer ganzen Länge mit leuchtenden Werbekästen zugepflastert. Damit ist auch der letzte Rest Tageslicht ausgesperrt und die optische Verbindung zwischen Bahnhofshalle und Stadt gekappt. So ist es wohl kein Zufall, dass das planende Architekturbüro Sud Architectes das Projekt auf seiner Website ausschliesslich mit Nachtaufnahmen dokumentiert.

Wer früher aus dem Untergrund die breite Treppe hoch in die Haupthalle schritt, dem öffnete sich ein prächtiger Raum. Die Bahnhofshalle war eine Visitenkarte der Hauptstadt. Wer heute aus dem Untergrund auftaucht, weiss nicht mehr, wo er ist. Oder schlimmer: Er meint, noch immer unter der Erde zu sein. Man steht vor einem riesigen Möbel aus Imbissständen und einer Treppe, die dorthin führt, wo man gar nicht hingehen will. Mit geschwungenen Linien und gerundeten Kanten wollen sich die Einbauten vom Bestehenden absetzen und erreichen damit vor allem eines: Sie schieben sich aufdringlich in den Vordergrund und setzen sich (dafür ist auch die dunkle Decke da) in Szene. Gekrönt wird das Ganze von Leuchten, die an Blumen erinnern sollen, die aber (ich geb’s zu: mit etwas Phantasie) genauso gut auch himmelwärts strömende Spermien sein könnten.

Hoffen statt verzweifeln

Wer die Metamorphose der grossen Halle des Warschauer Zentralbahnhofs vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan und nun zurück zum vollgestellten Käfig miterlebt hat, kann verzweifeln. Doch genug gelästert. Denn diese traurige Geschichte hat einen grossen, vielleicht nicht zu unterschätzenden Vorteil: Das Gebäude steht! Und die vielen Millionen, die die PKP jetzt investiert hat, werden (hoffentlich) verhindern, dass die Diskussion um den Abbruch der hala główna und die Neuüberbauung des Areals wieder aufflammt.

Die nächste Generation der Entscheidungsträger wird dann erkennen, welches Potential in dem vollgebauten Raum steckt. Dann lassen sich die Einbauten problemlos wieder entfernen und die dem Gebäude zugefügten Schäden reparieren. In meiner Heimatstadt Zürich hat es fünfzig Jahre gedauert, bis die prächtige Bahnhofshalle von 1871 von ihren Einbauten befreit wurde. Seit 25 Jahren ist sie nun der grösste gedeckte Stadtplatz der Schweiz und ein beliebter Veranstaltungsort. So lange werden die Warschauerinnen und Warschauer hoffentlich nicht warten müssen. Zu modisch ist das Neue, zu schlecht verträgt es sich mit dem Bestand.

Beim Warten auf die besseren Zeiten dürfen sie getrost nach Danzig blicken: Auch dort erhielt die (deutlich kleinere) Bahnhofshalle des Danziger Hauptbahnhofs «Gdańsk Główny» vor zwanzig Jahren ein Entresol. Es ist längst wieder weg. Ich drücke die Daumen, dass es auch in Warschau so schnell geht!

Polnische Version des Beitrags

Bildergalerie vom Februar 2012

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Kommentare

Andreas Konrad 04.10.2016 21:23
«Die Halle muss leer sein.» Richtig! Wer käme schon auf die Idee, eine Kirche mit Einbauten zu veschachteln? Was die Religion verbietet, scheint, auch hierzulande, bei säkularen, grossartigen Gebrauchsbauten Gang und Gäbe. Ich hoffe mit dem Autor auf Einsicht.
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