Von Menschen und Muscheln
Caruso St John bauten in Zürich ein charakterstarkes Gewerbehaus. Es steht für erfolgreiche Stadtentwicklung und den fragwürdigen Umgang mit Freiraum.
Tellergrosse Muscheln aus Beton giessen und an die Fassade eines Gewerbehauses hängen? Caruso St John haben es gemacht – wegen einer Jakobsmuschel im Logo ihres Bauherrn und weil ihnen die 500-jährige Casa de las Conchas in Salamanca gefällt. Seit letztem Sommer steht das Muschelhaus nun im Stadtzürcher Kreis 5, zwischen dem Lettenviadukt und dem Müller-Martini-Areal mit seinen Bögen, abgeschaut von der hundertjährigen Ca’ Brutta in Mailand. Jedem Architekten seine Referenzen?
Das Muschelhaus ist nicht nur besser als sein Nachbar, es ist auch eine Erfolgsgeschichte der Stadtentwicklung: Der Bauherr, die Stiftung Behindertenwerk St. Jakob, war zunehmend aus seinem brutalistischen Siebzigerjahresitz herausgewachsen und wünschte sich einen Neubau. Die Stadt suchte der Stiftung eine zentrale Parzelle, organisierte den Gesamtleistungswettbewerb und überliess ihr das Land im Baurecht. Der Kanton gab rund 15 Millionen Franken an die Gesamtinvestitionen. Und so gelang es, gewerbliche Arbeitsplätze mitten in einer Stadt zu erstellen, in der ausser Wohnungsbau wenig Platz zu haben scheint.
Flexibel gedacht, spezifisch gebaut
Hinter der Muschelfassade arbeiten heute etwa 400 vor allem psychisch eingeschränkte Menschen. Nicht Sozialarbeiter, sondern Berufsfachleute leiten sie an, denn die Stiftung trägt sich als «wirtschaftlich ausgerichtetes Sozialunternehmen» zu zwei Dritteln selbst. Weil jede Abteilung ihre besonderen Abläufe hat, definierte das Wettbewerbsprogramm auf fast hundert Seiten Flächen und Raumhöhen, Temperaturen und Luftfeuchten, technische Anschlüsse und Beleuchtungsstärken, Anforderungen an Boden- und Wandbeläge und vieles mehr. Entsprechend ist das Gewerbehaus keine neutrale Struktur, sondern stapelt für konkrete Nutzungen eingerichtete Geschosse.
Die Gebäude- und Gartenpfleger arbeiten meist ausser Haus und haben ihre Werkstätten darum neben den Parkplätzen im Untergeschoss. Das Erdgeschoss ist die Visitenkarte der Stiftung. Vor dem hauseigenen Café Köbi liegt eine zweistöckige Loggia. Hinter einem der grossen Fenster kneten und formen die Bäcker Teiglinge, nebenan belegen sie Sandwiches, noch einen Raum weiter sprudeln die Schokobrunnen der Pralinenproduktion. Im Geschoss darüber konfektionieren und verpacken die Mitarbeiterinnen Werbesendungen, und Blatt für Blatt scannen sie ganze Aktenberge, auf dass Firmen den Weg in die digitale Zukunft finden. Auf den ausladenden Sockel folgen vier kleinere Geschosse: Schreinerei und Flechterei, Elektronik, eine als Fitnesscenter vermietete Reservefläche, zuoberst Verwaltungsbüros und Kantine.
Traglasten, Raumhöhen, Oberflächen und Installationen mögen spezifisch sein, doch der Grundriss ist flexibel gedacht: Über dem Sockel dient ein umlaufender Laubengang als Fluchtweg, was ausserdem beheizte Fläche spart. Die Treppenhäuser, Lifte, WCs und Schächte liegen entlang der schmalen Strassenfassade mit den Muscheln, die restliche Fläche ist frei bespielbar.
Faserbeton und Muschelschmuck
Geht man um das Muschelhaus herum, entpuppt es sich als Januskopf zwischen kühlem Industriebau und heiterem Palazzo. Um den Sockel reihen sich Faserbetonplatten, vertikale Rillen überspielen das Fugenbild. Über den Fenstern biegen sich die Platten und zeigen, wie dünn die Gebäudehaut ist. An der Ecke zum Viadukt markieren grüne Keramikfliesen den Personaleingang. Zum Vorplatz im Südwesten, also zur Sonne hin, bekleiden gelbe Fliesen die Rückwand der Café-Loggia. Über dem Sockel kommt Rot als dritte Farbe hinzu. Vor der gestrichenen Kompaktfassade fügen sich vorfabrizierte Betonelemente zum Laubengang, bekrönt von Leuchtlettern. Die Stützen, Bodenplatten und breit kannelierten Brüstungen darunter könnten auch zu einem Wohnhaus gehören. Die überhohe Stadtloggia vor der Kantine wäre dann sicherlich gut vermietbar.
Und die Muscheln? Auch sie überspielen das Fugenbild. Vor allem aber machen sie die geschlossene Strassenfassade zur offensichtlichen Adresse des Hauses. Zuoberst reckt sie sich, das Technikgeschoss integrierend, stolz in die Höhe. Unten markieren wiederum grüne Keramikfliesen und ebenso grüne Stahltore die zwei Haupteingänge, sprich: Anlieferung und Einfahrt zur Tiefgarage. Denn ein Gewerbehaus heisst vor allem auch, dass Autos ein- und ausfahren, dass Material kommt und Produkte gehen. Hier sprudelt das Leben hinein und hinaus.
Umgebung ist Nebensache
Das klingt nun alles nach heiler Welt, nach einem charakterstarken Gewerbebau, einem produktiven Arbeitsort auch für Menschen mit Behinderung. Doch der Weg dorthin war zäh, und ebenso war es die Recherche für diesen Artikel. Dass er ohne Innenraumfotos und Pläne auskommen muss, liegt am Bauherrn. Weil der Bäckermeisterverband sich im ‹Tages-Anzeiger› über die subventionierte Konkurrenz beklagt hatte, wollte der Geschäftsführer der Stiftung keinerlei Presse mehr über sein neues Haus. Was rechtlich gilt und worauf man achten muss, will man trotzdem publizieren, erklärt Medienanwältin Regula Bähler siehe Seite 17.
Man könnte einen ganzen Strauss weiterer Auseinandersetzungen ausbreiten, doch interessant ist vor allem die Umgebung: Im Wettbewerbsbeitrag hatte der Landschaftsarchitekt André Schmid ein Bouquet von Kiefern und Laubbäumen geplant, darunter Landi-Bänke, wie sie in vielen öffentlichen Räumen Zürichs stehen. So sah auch der Plan in der Baueingabe aus. Doch der Bauherr wünschte sich keinen Quartierplatz, sondern einen Platanengarten, und zwar unbedingt. Schliesslich nahm Schmid den Hut, und ein Gartenbauer zeichnete einen neuen Plan. Das ist etwa so, als käme man nach Wettbewerb und Baueingabe mit ein paar Baumeisterplänen und baute ein völlig anderes Haus. Die Stadt äussert sich nicht dazu, denn die Bauabnahme steht noch aus. Man kann wohl davon ausgehen, dass sie die Änderung bewilligte. Unklar ist, ob es eine qualifizierte Neubeurteilung gab.
Sitzt es sich unter Platanen denn nicht angenehm? Sind Kiefern schöner oder dem Quartier angemessener? Das sind die falschen Fragen, denn hier geht es um ein Prozessproblem. Seit Jahren lautet das Credo der Behörden und Planer: Für qualitätsvolle Verdichtung ist die Freiraumgestaltung zentral. Dass eine völlige Kehrtwende nach Wettbewerb und Baueingabe aber als «Änderung» durchgeht, spricht Bände über den realen Stellenwert des Freiraums in Planungsprozessen.
Gewerbehaus St. Jakob, 2018
Viaduktstrasse / Heinrichstrasse, Zürich
Bauherr: Stiftung St. Jakob, Zürich
Architektur: Caruso St John, Zürich
Auftragsart: selektiver Gesamtleistungswettbewerb, 2018 (Betreuung: Amt für Hochbauten, Zürich)
Totalunternehmer: HRS Real Estate, Zürich
Umgebung: André Schmid Landschaftsarchitekt, Zürich (bis Vorprojekt)
HLKS: Kalt und Halbeisen, Zürich (bis Vorprojekt); Pfiffner, Zürich
Betonfertigteile und Faserbeton: Elementwerk, Istighofen
Baumeister und Fensterbau: Streuli, Kilchberg
Gesamtinvestitionim Baurechtsvertrag: Fr. 36,5 Mio.
Werkpreisangebot im Wettbewerb: Fr. 26,8 Mio.
Geschossfläche: 6828 m² (oberirdisch)
Publizieren wider Bauherrenwillen
Warum dürfen Architekten ihre Gebäude nicht grundsätzlich publizieren?
Regula Bähler: Die Vertragsfreiheit erlaubt, diesen Aspekt unterschiedlich zu gestalten. Bei einem Werk oder Teilen davon, die sich vom Banalen abheben, entsteht das Urheberrecht zunächst bei den Architekten. Als Werk gelten dabei nebst dem gebauten Haus auch Skizzen, Entwürfe oder Pläne, sofern sie individuellen Charakter haben. Oft räumen die Architekten dem Bauherrn Nutzungsrechte ein, meist in einem schriftlichen Vertrag. Auf diese Weise sind sämtliche Teilnutzungsrechte übertragbar, auch das Recht, ein Gebäude zu verändern oder eben Abbildungen oder Pläne zu veröffentlichen. In der Praxis passiert das fast immer, denn die SIA-Normen sehen eine Publikation nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des Bauherrn vor. Das müsste freilich nicht so sein.
Darf man Pläne und Bilder veröffentlichen, auch wenn der Bauherr die Zustimmung verweigert?
Kurz gesagt: Nein, aber. Pläne telquel abzudrucken oder ins Internet zu stellen, ist in diesem Fall eine urheberrechtlich verbotene Vervielfältigung. Es bleibt aber erlaubt, sich inspirieren zu lassen. Dabei gilt die Faustregel, dass das Original nicht durchscheinen darf. Bei Grundrissprinzipien und geometrischen Formen genügt schon ein verhältnismässig kleiner Abstand. Das Mittel der Darstellung spielt keine Rolle. Bezüglich Bildern sind Innenaufnahmen ohne Einwilligung tabu, denn sie betreffen die Privatsphäre. Bei Aussenaufnahmen gilt die Panorama- oder Strassenfreiheit. Gebäude, die vom allgemein zugänglichen Grund aus sichtbar sind, darf man ablichten, aber ohne Hilfsmittel wie Leiter oder Drohne. Gewähren die Aufnahmen Einblicke in das Gebäudeinnere, darf nichts Erkennbares auf bestimmte Personen schliessen lassen. ●
Regula Bähler (64) ist Rechtsanwältin in Zürich. Sie unterrichtet Medien-, Kunst- und Kommunikationsrecht. Bis 2012 war sie Vizepräsidentin der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen, davor Geschäftsführerin bei Suisseculture sowie freie Journalistin und Filmrealisatorin.