Während Züge und Pendlerströme an ihr vorbeiglitten, ist die Fotografin Katalin Deér vor allem stillgestanden und hat über Monate die Räume und Plätze und deren Nutzung beobachtet. Fotos: Katalin Deér

Schwerpunkt verschoben

Der neue Glaskubus des Bahnhof St. Gallen schliesst die Fassadenlücke zum Kornhausplatz. Der Um- und Neubau des Bahnhofs verknüpft Stadt- und Verkehrsraum, historisch und zeitgenössisch, unten und oben.

Aarau hat eine Wolke, Winterthur einen Pilz, Bern eine Welle und St. Gallen eine Laterne. Die Rede ist von den Dachskulpturen, die in den letzten Jahren rund um und über Schweizer Bahnhöfe und ihre Plätze gewachsen sind. So verschieden ihre Ausformulierungen auch sind, der Treiber ist immer derselbe: die Zunahme des öffentlichen Verkehrs. Immer mehr Pendlerinnen fahren mit Bus oder Postauto zum Zug. So sparen sie sich den Parkplatz und entkommen – versunken in ihr Handy – dem Pendlerstau. Gerade in St. Gallen sind die Regionalbusse ein wichtiges Mobilitätsrückgrat, das die Bewohner des hügeligen Umlands mit der Stadt verbindet. Mit dem Aus- und Umbau des Bahnhofs und der Neugestaltung des Bahnhof- und des Kornhausplatzes ist die Stadt für die neuen Bedürfnisse gerüstet: Eine grosszügigere Unterführung, Doppelstockbusse und das Durchflusssystem sind die verkehrstechnischen Antworten auf die Zunahme des Pendlerverkehrs. Die architektonischen Antworten sind ein gläserner Kubus, ein weiter Platz, ein renoviertes Aufnahmegebäude und eine neue Dachlandschaft.

Grundriss Erdgeschoss Bahnhofplatz und Kornhausplatz St. Gallen

Weil ein Bahnhof und sein Platz immer auch eine städtische Visitenkarte sind, hat die Stadt 2009 einen Wettbewerb für die ‹Aufwertung und Neugestaltung des Bahnhofplatzes› ausgeschrieben. Im Nachhinein ist allen klar, dass die Konzentration der Aufgabenstellung auf den Platz zu kurz gegriffen war. Die Ausweitung des Projekts auf das Bahnhofsgebäude und die Unterführungen zeigt die Lernkurve der Beteiligten. Denn Platz und Bahnhof, aber eben auch Perrons, Shopping, Vorder- und Rückseite bilden ein Ganzes und müssen miteinander verwoben werden – nur so kann der Bahnhof seine Rolle als verbindendes städtisches Element ausspielen. Gewonnen hat denn auch der Vorschlag der Planergemeinschaft Akari, der weit über die Neugestaltung des Bahnhof- und des Kornhausplatzes hinausging und Stadträume vor, in und hinter dem Bahnhof miteinander vernetzt. Oberirdisch etwa durch einen neuen Zugang, der aus dem hohen Glaskubus direkt in die historische Halle führt und so einen prächtigen Weg durch das lange Haus an das westliche Ende des Bahnhofs ermöglicht.

Urbaner Stimmenfänger

Mittel- und Schwerpunkt des Entwurfs ist ein starkes visuelles Zeichen: der tags wie nachts leuchtende Glaskubus zwischen Aufnahmegebäude und Rathaus. Die grosszügige Halle, die täglich 80 000 Passantinnen und Passanten queren, ist zwar auch ein Dach, das vor der Witterung schützt, aber viel mehr noch ist sie städtebaulicher Lückenfüller, Tageslichtgefäss und nächtliche Laterne. Und wer genau hinhört, kann sie auch als urbanen Stimmenfänger wahrnehmen, in dem «Laute der unterschiedlichsten Formung sich zu einem Brei verbinden, der Blasen treibt, steigt, als würde er hochgekocht werden von geheimem Feuer, bald an der Decke anschwappt, Wellen wirft, die zu Winden werden, die man Sprechwinde nennt», wie der im Toggenburg aufgewachsene Schriftsteller Peter Weber das Phänomen des Resonanzkörpers Bahnhofshalle in seinem Buch ‹Bahnhofsprosa› so schön beschreibt.

Grundriss Untergeschoss Bahnhof St. Gallen

Die 22 Meter breite, 26 Meter lange und 14 Meter hohe Halle über dem Abgang der Personenunterführung steht auf einer mächtigen Stahlkonstruktion. Ihre Hauptstützen sind eingezogen, was den Eindruck einer über der Treppenanlage schwebenden Glashaube verstärkt. Auf den vier eingespannten Stützen liegt eine auskragende, kassettenartige Decke; an ihr hängen die schmalen Fassadenschwerter, an die wiederum die quadratischen transluzenten Glasschuppen montiert sind. Die beschichteten Gläser sorgen dafür, dass die Halle nachts zu einem voluminösen Lichtkörper wird, durch dessen Hülle die Konstruktion und die blau leuchtende Uhr – ein Kunst-und-Bau-Projekt des Künstlers Norbert Möslang siehe ‹Die binäre Uhr› – leicht durchschimmern. Sie machen den Kubus auch zu einem Bildschirm im Stadtmassstab, vor allem für den gegenüberliegenden Kornhausplatz. Zum Glück stellen die lieblos aufgehängte elektronische Busfahrplananzeige an der Innenseite sowie die Zwischendächer, die für trockene Übergänge zum historischen Bahnhofsgebäude und zur Arkade des Rathauses sorgen, die Leichtigkeit und Durchlässigkeit des Projekts nicht infrage. Diese Elemente und Anschlüsse folgen mehr dem Prinzip der Bedürfnisse der Reisenden als dem der Ästhetik.

Verkehrsfreie Insel

Der neue visuelle und räumliche Orientierungspunkt ist auch ein sorgfältig platzierter städtebaulicher Ersatzbaustein. Wo früher ein in die Jahre gekommenes Tonnendach stand, stellt heute der selbstbewusste Kubus eine neue Rangordnung an der nördlichen Bahnhofstrasse her: Indem er sich in den Stadtraum hineinschiebt, macht er sich zum ersten Gebäude am Platz. Nicht protzig, aber kraftvoll und bestimmt. Gleichzeitig vermittelt er elegant zwischen seinen prominenten, sehr unterschiedlichen Nachbarn: Seine Proportionen nehmen die des historischen Bahnhofsgebäudes auf – dessen Bauch etwas weniger in den Bahnhofplatz hineinragt –, seine Materialisierung und Konstruktion stellen Bezüge zur spiegelnden Glasfassade des Rathauses auf der anderen Seite her. So schliesst die neue Halle die historische Fassadenlücke und wird damit zum wichtigsten Gegenüber des Kornhausplatzes, der zweiten Säule des Wettbewerbsentwurfs. Denn der Platz kann erst dank der nunmehr lückenlosen Kulisse seine volle Wirkung entfalten. Was auch andersherum gilt: Der Kubus braucht eine angemessene Bühne, kurz, Platz und Kubus bedingen sich.

Längsschnitt Personenunterführung Ost

Der Bahnhofplatz selbst ist gebaute städtische Weite, der daran anschliessende Kornhausplatz ein luftiger, mit hellgrauen Granitplatten belegter Stadtraum. Selbstbewusst sagt er: St. Gallen hat nicht nur seine enge Altstadt, sondern rund um den Bahnhof auch einen weiten Atem. Nachts betont die dezente Fassadenbeleuchtung die Platzform. Der Belagswechsel von Asphalt zu Naturstein und die abgerundeten Ecken verstärken die Wahrnehmung des hellen Platzdreiecks als verkehrsfreie Insel inmitten hektischen städtischen Treibens. Die Landschaftsarchitekten haben den über die Jahre angelagerten städtischen Krimskrams, etwa den früheren Billett-Pavillon, weggeräumt. Den Rand der neu gewonnenen, 30 000 Quadratmeter grossen Weite haben sie mit schlanken, säulenförmigen Laternen und hoch aufgeasteten Bäumen gesäumt und dazwischen Sitzbänke frei verteilt. Die Mitte wird vom restaurierten Lämmlerbrunnen besetzt. Die neun Meter hohe Bronzeplastik des Künstlers Köbi Lämmler, die 1980 als Symbol für die St. Galler Textilwirtschaft auf den Kornhausplatz gesetzt wurde, hätte das Feld eigentlich räumen müssen. Die Landschaftsarchitekten schlugen im Wettbewerb an seiner Stelle ein flaches Wasserbecken vor, dessen Sonnenlichtspiel den Dialog mit der lichtdurchlässigen Fassade des Kubus aufgenommen hätte. Während der Projektphase begrub ein politischer Vorstoss zur Rettung der Brunnenskulptur die Beckenidee. Obwohl die Bevölkerung über ein anderes Projekt abgestimmt hatte, gab der Stadtrat nach – mit dem Segen der Juristen. So markiert heute Lämmlers ‹aufgestelltes Nastuch› wie eine stumpfe Antenne den Schwerpunkt des Platzes.

Ein neuer Horizont über dem Bahnhofplatz

Kornhausplatz und Kubus sind über eine breite Fussgängerquerung miteinander verbunden. Auf ihr teilen sich Wartende, Gehende sowie Busse und Appenzeller Bahnen den Platz. Die Fussgängerachse wird beidseitig von einer Reihe hoher Dächer über den Bushaltekanten gesäumt. Die Stahlkonstruktionen sind in denselben Materialien wie der Kubus gehalten, nehmen seine Dimensionen auf und sprechen seine Konstruktionssprache. Die sieben Dächer definieren einen neuen Dachhorizont über dem Bahnhof- und dem Kornhausplatz. Spitz zulaufend liegen sie auf grauen Stützen, deren Zwischenraum teilweise mit Glaswänden ausgefüllt ist, um wichtige Sichtverbindungen nicht einzuschränken. Während der Planung wurde intensiv über ihre Dimensionen diskutiert, sie ist ein Resultat funktionaler Anforderungen: Damit die Fahrgäste auch beim Ein- und Aussteigen ein Dach über dem Kopf haben und weil auch doppelstöckige Busse an die Haltekante fahren, ergab sich eine 4,5 Meter hohe Dachkante. Obwohl die Dächer sich an der Unterkante des Kubus orientieren und sich auch in die Höhe der Sockelgeschosse der umliegenden Gründerzeitbauten einpassen, folgte Kritik auf dem Fuss: Zu wuchtig, rücksichtslos und so hoch, dass man bei Regen nass wird, seien die Dächer, schimpften einige St. Galler über den ‹städtischen Massstab› der Architekten.

Längsschnitt Personenunterführung West

Die kompakte Anordnung der Haltekanten in der Längsachse des Bahnhofplatzes und entlang der Kornhausstrasse hat zur Folge, dass einzelne Dächer einigen Fassaden ziemlich nahe kommen – etwa den beiden historischen Geschäftshäusern der Architekten Curjel & Moser sowie Pfleghard & Haefeli an der Kornhausstrasse. Auch das ungeübte Auge sieht: Die Dächer der Haltestellen und die grünlichen Sandsteinfassaden bilden kein harmonisches Ensemble. Auch dem Erker des denkmalgeschützten Hotels Metropol des Architekten Otto Glaus am Bahnhofplatz kommt die Ecke eines Haltekantendachs recht nahe. Doch in der Längsrichtung des Bahnhofplatzes beschleunigt und dynamisiert die Dachreihe den langen Stadtraum. Der Entwurf ist stabil genug, um den Kompromiss zwischen verkehrstechnischem Sachzwang, architektonischer Absicht und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu bestehen.

So schreibt der Aus- und Umbau des Bahnhof- und des Kornhausplatzes eine Planungsgeschichte fort, die 1907 mit dem Wettbewerb «zur Erlangung von Entwürfen für eine einheitliche architektonische Gestaltung der Fassaden» begann und den Grundstein legte für das grossstädtische Bahnhofsquartier. Im Mittelpunkt stehen heute wie damals der öffentliche Raum und seine Vernetzung. Städtebaulich schliesst der Glaskubus die Lücke der Platzfassade und spannt mit dem neuen Kornhausplatz eine Querachse zum lang gezogenen Bahnhofplatz auf.

Dieser Text stammt aus dem Themenheft «Urbane Drehscheibe», das im Webshop bestellt werden kann.

close

Kommentare

Kommentar schreiben