Lowtech für Hightech

Bei der ‹vertikalen Fabrik› in Dierikon von Graber & Steiger löst die Fassade Belichtung und Verschattung, Aufenthalt und Erscheinung. Beim Fassaden Award Prixforix 2021 gewinnt das Gebäude den 1. Preis.

Fotos: Peter Tillessen
In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Zentrale Fenster und Fassaden SZFF

Bei der ‹vertikalen Fabrik› in Dierikon von Graber & Steiger löst die Fassade Belichtung und Verschattung, Aufenthalt und Erscheinung. Beim Fassaden Award Prixforix 2021 gewinnt das Gebäude den 1. Preis.

Eigentlich sind ‹robust› und ‹filigran› ja gegensätzliche Attribute. Beim Neubau von Komax in Dierikon nicht. Der grosse Industriebau ist vom Tragwerk bis zur Fassade einfach, fast simpel, eben: robust konstruiert. Doch wenn man sich ihm nähert oder mit der Bahn daran vorbeisaust, erscheint seine Hülle luftig, leicht und durchlässig, wie ein filigraner Überwurf. Das Robuste und das Filigrane bedingen sich hier gegenseitig. Doch beginnen wir von vorn.

Der Neubau des Kabelverarbeiters Komax hat zwei unterschiedliche Fassaden.

Komax ist ein weltumspannendes Unternehmen mit Wurzeln in Luzern. Es entwickelt und produziert Maschinen für die Kabelverarbeitung, zum Beispiel für die Automobilindustrie. Auf dem Gewerbestreifen in Dierikon zwischen Kantonsstrasse und Bahnlinie, Luzern und Zug, baute die Firma in den 1980er-Jahren ihren Hauptsitz. Der Neubau steht nun dahinter, architektonisch weitaus anspruchsvoller. Von ihm aus blickt man übers Bahngleis auf einen bewaldeten Hügelzug. Es riecht nach Kuh.

Die geschichtete Fassade gibt dem Komax-Gebäude in Dierikon einen starken Ausdruck.

Ohne viel Technik
Im kompakten Grosskubus finden sich zwar die gleichen Nutzungen wie hinter der olivgrünen Blechfassade der Altbauten, doch sonst macht er alles anders. Auf 55 mal 50 Metern und sieben flexiblen Geschossen stapeln sich Produktion, Büros, Lager, Auditorium und Kaffee-Ecke. Überall ist alles möglich. Das spart Land, macht die Abläufe effizient und Anpassungen einfach. Der Projektwettbewerb suchte nach der ‹vertikalen Fabrik›. Und nach einem nachhaltigen Bau, der ohne viel Technik auskommt. Hightech machen wir selbst, dachte sich die Bauherrin, beim Gebäude setzen wir auf Lowtech. So kam die Robustheit ins Spiel.

Die Fassade ist Klimaschicht, Fluchtweg und Aufenthaltsraum.

Die Architektur löst hier vieles, was sonst Technik verbessern muss: Ein glasüberdecktes Atrium holt natürliches Licht in die Tiefe des Baukörpers. Kamingleich kurbelt es die natürliche Belüftung an und hilft so, nachts die Betonmasse der Decken und Stützen zu kühlen. Die markanten Stützen gabeln sich oben baumartig. Innen wie aussen bestimmen sie den Ausdruck des Gebäudes und schaffen grosse freie Flächen. Auf diesen trennen gläserne Wände und Vorhänge Büro und Besprechungsräume ab. Oder auf ihnen werden grosse Maschinen montiert. Blaue Wägelchen flitzen unter der Decke umher und liefern die benötigten Kleinteile an die Arbeitsplätze auf den einzelnen Etagen. 21 000 davon lagern im Untergeschoss. Zwei Baumstützen bilden je einen Kern, Lifte oder Leitungen darin verbinden die Geschosse. Das Atrium und viele Treppen verbinden wiederum die Mitarbeiter. Voilà, so funktioniert eine ‹vertikale Fabrik›.

Das Atrium holt Licht in die Mitte des tiefen Baukörpers und sorgt für natürliche Belüftung.

Filigrane Fassade
Die Fassade verpackt all das nicht nur, sondern ist ein Teil des einfachen, aber ausgeklügelten Lowtech-Organismus des Gebäudes. An den beiden längeren Fassadenseiten zeichnet sich die Form der Baumstützen ab. Die Negativformen dazwischen stülpen sich als Gittererker nach aussen. Darin dient ein schmaler Steg als Servicebalkon, zudem verschattet das Gitter aus leichten Alu-Hohlprofilen die Fenster: Die Wintersonne darf hinein, die Sommersonne muss draussen bleiben. SIA-Wärmeschutz ganz ohne Technik. Vor den beiden anderen Fassaden laufen sowohl die raumhohen Fenster als auch der Steg davor durch. Gitterstreifen hängen vor dem zweieinhalb Meter tiefen Aussenraum und steuern den Sonneneinfall. Weiss lackiert bilden sie das filigrane Gesicht des Hauses, während die Glasfassade dahinter in den Hintergrund tritt. Die tiefen Stege dienen auch als zusätzliche Treppenhäuser. Sie sind Fluchtweg, Reparatur- und Putzbalkon und Pausenräume für die Mitarbeitenden – auch an heissen Tagen. Der Wind, der durch die Gitterböden zirkuliert, bläst die Hitze weg. Die Aussicht wird durch keine Stütze unterbrochen, denn Stege und Gitter hängen an dünnen Zugbändern vom obersten Stützenbaum herab. Sie machen auch die Seite des Erdgeschosses stützenfrei, wo Lastwagenrampen auf Nachschub warten.

Die feststehende Brise Soleil ist robust und langlebig. Dafür lässt sie sich nicht steuern.

Die permanente Sonnenblende lässt viel Licht hinein und den Blick hinaus. Weder die Witterung noch der Wind kann ihr etwas anhaben. Auch keine falsche Benutzung oder Schäden an der Elektrik, denn sie wird weder bedient, noch gibt es Elektrik. Die Gitter stehen still und starr und halten so lange, wie das Haus hält. Und sie tauchen die Innenräume, egal ob Produktionsetage, Büro oder Lichthalle mit Kaffee-Ecke, in das klare Licht nach einem Sommergewitter.

Wirkung der Brise Soleil: Nur die tief stehende Wintersonne scheint ins Gebäude. Das Licht der steileren Sommersonne reflektiert die Brise Soleil an die innere Decke.

Die Jury sagt:
«Der breite Gang an zwei Seiten des Gebäudes ist Servicegang, Fluchtweg und Aufenthaltsraum in einem. Seine Gitter halten im Sommer die Sonne ab, lassen aber auch genügend Licht hinein und die Blicke der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinaus. Die Glasfassade dahinter ist einfach, effizient und wirtschaftlich. Die ‹vertikale Fabrik› in Dierikon LU überzeugt mit ihrem Tragwerk, der Organisation und schliesslich mit der Fassade als Gesamtkonzept. Sie braucht wenig und kann viel. Ein Projekt unserer Zeit und eine verdiente Siegerin.»

Dieser Beitrag ist dem Themenheft ‹Prixforix 2021› entnommen. Abonnenten bekommen es mit dem November-Heft nach Hause.

Situation

Erdgeschoss

1. Obergeschoss

4. Obergeschoss

Querschnitt

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