130 Gäste füllten zuerst den Saal des Museums für Gestaltung in Zürich und dann den Raum davor beim Apéro. Fotos: Martin Bichsel

Kühn statt bequem?

Am Feierabendtalk von Hochparterre und Wohnbaugenossenschaften Schweiz diskutierten Fachleute darüber, was wir von experimentellen Berliner Wohnprojekten lernen können. Geht es uns zu gut?

Es war 2012, im Uno-Jahr der Genossenschaften, als Hochparterre schon einmal mit den Wohnbaugenossenschaften zusammenspannte. «Wie sieht die ideale Genossenschaftswohnung aus?», fragte der Moderator Axel Simon auf der Bühne des Museums für Gestaltung in Zürich. Und diskutierte auf dem Podium die ausgeklügelten Grundrisse, die ausgefeilten Wettbewerbsprozesse und die perfektionierten Architekturdetails des ‹Wohnbaulabors Zürich›. Der Basler Architekt Luca Selva gemahnte damals, es sei «europäisch einzigartig», was hier gebaut werde, aber man neige zum Exzess. Darum sei der Aussenblick wichtig.

Den lieferten Hochparterre und Wohnbaugenossenschaften Schweiz nun, sieben Jahre später, mit «Blick nach Berlin. Sauber war gestern». Die gemeinsame Diskussionsveranstaltung fand auf der gleichen Bühne statt, wie damals und war der Auftakt einer öffentlichen Talkreihe. Im Jahr ihres 100. Jubiläums wollen die Schweizer Wohnbaugenossenschaften mit einem interessierten Publikum über künftige Herausforderungen für die Branche diskutieren.
Der Schauplatz Berlin lieferte den Aussenblick und zeigte eine Zukunftsvision jenseits der Schweizer Perfektion. In der deutschen Hauptstadt gehen innovative Architekturbüros experimentelle Wege. Sie mischen Wohnen und Arbeiten, Genossenschaft und Eigentum, Gemeinnutz und Kommerz.

Zwei von ihnen, Nanni Grau vom Architekturbüro Hütten und Paläste und Christoph Schmidt von ifau Berlin, stellten in Zürich ihre Projekte vor. Das Stichwort Berlin und die internationalen Gäste zogen offenbar: Gegen 130 Besucherinnen und Besucher strömten ins Museum für Gestaltung. Sie wurden belohnt mit faszinierenden Einblicken in eine neuartige Konzeption von Projekten. Hütten und Paläste entwickelt zurzeit das Berliner Vollgut-Areal: 35‘000 m2 Nutzfläche, die grösstenteils aus unterirdischen Geschossen besteht. Hier entsteht unter anderem das Circular-Haus, wo sich alles um Kreisläufe dreht, sowohl ökonomisch, als auch sozial. Christoph Schmid vom Büro ifau sprach von der Stadt als «Verhandlungsraum» und illustrierte dies am Projekt IBeb. An erstklassiger Innenstadtlage am ehemaligen Blumengrossmarkt verwirklichte ifau zusammen mit dem Büro Heide & von Beckerath und nicht weniger als 86 Bauherrenparteien ein Projekt, bei dem sich verschiedenste Interessen, Nutzungen und Eigentümerschaften mischen.

Ob sich solch aufwändige Prozesse für ein Architekturbüro finanziell überhaupt lohnen würden, war eine Frage aus dem Publikum. Wirtschaftlich wohl kaum, lautete die unverblümte Antwort von Nanni Grau. Aber wenn man das Resultat anschaue, ergänzte Christoph Schmidt, dann zahle sich der Aufwand aus. So entstünden eine sehr hohe Identifikation und neue Ideen für das Nutzen und Teilen von Räumen. Auch würde die Architektur robuster. Heisst auch: weniger geschliffen als die vielgelobte Schweizer Genossenschaftsarchitektur. Die Projekte zeugen vom Mut zum Unfertigen und Ungehobelten. Einerseits ist dies ein Kniff, um bezahlbaren urbanen Wohn- und Lebensraum zu schaffen. Zielgrösse für Berlin: 9.50 Euro pro Quadratmeter – eine Zahl, die im Saal Raunen auslöste. Aber nicht nur das. Die Option zum Selbstausbau etwa ist nicht nur eine Sparmassnahme, sondern bietet den Nutzern Gestaltungsspielraum und sorgt für Identifikation.

Und was können wir Schweizer nun von diesen Ideen lernen? Eigentlich sei es doch umgekehrt, lachten die Berliner Architekten: Sie seien es, die neidisch nach Zürich schielen. Die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand sei in Berlin nicht so etabliert wie in Zürich. Das Konzept des Baurechts etwa kannte man in Berlin lange nicht. Die Stadt vergab Areale jeweils an die Meistbietenden. Die Schweizer Architekten profitierten von klaren, Instrumenten und guten Netzwerken – und von einer gemeinhin hohen Wertschätzung für hochwertige Architektur und Materialien.  Aber, fragte Axel Simon etwas provokativ in die Runde, könnte es auch sein, dass wir es uns in diesen etablierten Strukturen fast etwas zu bequem gemacht haben? Sind die radikalen Berliner Ideen nicht einer gewissen Not zu verdanken, die ja bekanntlich erfinderisch macht? Das könne man durchaus so sehen, räumte die Zürcher Wohnbauakteurin Claudia Thiesen auf dem Podium ein. Vielleicht sei man hier tatsächlich etwas gesättigt. Etwas mehr Mut und Kühnheit würden den hiesigen Bauträgern nicht schaden.

Das könnte den Schweizer Wohnbaugenossenschaften doch ein guter Vorsatz sein für das nächste Jahrhundert. Und wir dürfen gespannt sein, worüber wir in einigen Jahren diskutieren werden. 

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