Norman Fosters «Ombrière» im alten Hafen.

Imagepflege


Eine vielfältige Reise des Fachvereins «Architektur und Kultur» des SIA führte nach Marseille, Europas Kulturhauptstadt 2013. Die ärmste Stadt Frankreichs baut sich ein neues Image – ein Reisetagebuch aus einer Stadt im Umbruch.

Eine vielfältige Reise des Fachvereins «Architektur und Kultur» des SIA führte nach Marseille, Europas Kulturhauptstadt 2013. Die ärmste Stadt Frankreichs, wo fast 13 Prozent der Einwohner arbeitslos sind und nur etwas mehr als die Hälfte aller Haushalte Steuern zahlen, baut sich zur Zeit ein neues Image. Zaha Hadid, Norman Foster und Massimiliano Fuksas entwerfen Bürotürme, Museen und Hotels – aus der ungezähmten, lauten Hafenstadt soll eine saubere, kulturell anziehende Metropole werden. Ein Reisetagebuch aus einer Stadt im Umbruch.

Donnerstag, 23. Mai – Der neue alte Hafen.


Nach der Anreise traf sich die Reisegruppe am frühen Abend zu einem ersten Rundgang durch den Vieux Port, geführt von der Kunsthistorikerin Carina Curta. Hier schwebt seit kurzem Norman Fosters «Ombrière»: Eine dünne Platte aus poliertem Stahl, 46 mal 22 Meter, auf acht schlanken Säulen. Das Dach beschattet den Granitplatz und spiegelt Wasser, Schiffe und Menschen. Es ist das Herzstück der neuen Fussgängerzone im alten Hafen und die spiegelglatte Oberfläche Sinnbild für den Zustand der Stadt: Marseille wird geschrubbt, renoviert und neu gestrichen, Strassenzüge werden erneuert, Bäume gepflanzt und Museen eröffnet. Die ärmste Stadt Frankreichs, wo fast 13 Prozent der Einwohner arbeitslos sind und nur etwas mehr als die Hälfte aller Haushalte Steuern zahlen, baut sich ein neues Image – aus der ungezähmten, lauten Hafenstadt soll eine saubere und kulturell anziehende Metropole werden.
Wie alle grossen Hafenstädte Europas verändert auch die Metropole des Südens ihre Front, die Anbindung ans Meer wurde nach dem Vorbild Barcelonas vorangetrieben. Im Vieux Port bedeutet das weniger Verkehr und mehr Platz für Fussgänger – aber auch weniger Fischweiber, die am Quai ihre Ware feilbieten.
Den Abschluss des ersten Tages bildete ein Nachtessen mit Bouillabaise, Marseilles berühmter Fischsuppe. Sie hat bereits geschafft, womit die Stadt liebäugelt und ist vom Arme-Leute-Essen zur Edelmahlzeit avanciert.

Freitag, 24. Mai – Gentrifizierung und Wohnmaschine.

Tiefblauer Himmel und kalte, klare Luft: Am nächsten Morgen bläst der Mistral – eine einzige, anhaltende Böe. Erster Halt: «Le panier», das Maghrebinerviertel, das sich lange Zeit mitten im Stadtzentrum hielt und nun für die ehemaligen Anwohner immer unerschwinglicher wird; sie wandern in die Nordquartiere ab, Künstler und Kunsthandwerker ziehen ein. Obwohl das aufstrebende Viertel bereits die ersten Spekulanten auf den Plan ruft, bewahrt es sich noch seinen familiäre Charakter. Hier findet sich auch die «Vieille Charité», vom Barockarchitekten Pierre Puget als Armenhospiz errichtet und 1962 zu einem Museumskomplex umgebaut.
Der Stadtspaziergang führt weiter in die Rue de la République, die alten und neuen Hafen verbindet – eine Avenue im Haussmann-Stil, über einen Kilometer lang und 1864 eingeweiht, eine ins alte Stadtgefüge geschlagene Schneise. Auch hier wird der Gentrifizierung Vorschub geleistet. Bis vor kurzem war die Strasse russgeschwärzt, mittlerweile ist die eine Hälfte der Strasse saniert, die Fassaden sandgestrahlt, H&M und Starbucks sind eingezogen.
Nächster Halt kurz vor dem Mittagessen: Die «Friche la Belle de Mai» zeigte eine weitere spannende Facette Marseilles. Das Kulturquartier nordöstlich des Hauptbahnhofs Saint-Charles profitiert von der Totalsanierung. Hier befand sich einst eine staatliche Fabrik für Zigaretten, die Mitte der Neunzigerjahre umgenutzt wurde. Nun haben die Architekten Matthieu Poitevin und Pascal Reynaud die ehemalige Fabrik umgebaut. Um eine kleinteilige Nutzung mit Künstlerateliers zu ermöglichen, haben sie in der früher dunklen Lagerhalle Durchbrüche geschaffen und mit Gängen und Höfen vertikal unterteilt. Mittelpunkt bildet das Restaurant «Les Grandes Tables», wo sich die Kreativszene trifft.
Letzte Station des Tages war Corbusiers «Ville Radieuse». Kurz nach der Befreiung Frankreichs erhielt er den Auftrag, Sozialwohnungen für Marseille zu entwerfen und daraus Prototypen für den französischen Massenwohnungsbau zu entwickeln. Der Architekt entwickelte Wohnmaschinen als autarke Wohneinheiten in einem städtebaulichen und gemeinschaftlichen Konzept. So beherbergt die «Unité» neben 337 Apartments auch ein Hotel, eine Bäckerei, ein Restaurant, eine Bibliothek und eine Kinderkrippe sowie auf dem Dach ein Schwimmbad und ein Freiluft-Theater. Indessen funktioniert dieses abgeschlossene System nur noch teilweise, vor allem deshalb, weil das Haus eine Art bewohntes Museum geworden ist und die Läden leer stehen. Das anschliessende Essen im Restaurant «Le Ventre de lʼArchitecte» bildete den gelungenen Abschluss des Tages.

Samstag, 25. Mai – Grossprojekt «Euroméditeranée» und Küstenwanderung.

Noch immer bläst der Mistral. Der Spaziergang führt am Morgen zum Grossprojekt «Euroméditeranée», wo derzeit direkt am Meer ein neues Viertel wächst. Mit 480 Hektar ist es das grösste Städtebauprojekt Europas: Rund um das ehemalige Hafengelände entstehen Bürotürme, Luxushotels und Wohnanlagen. Rund sieben Milliarden Euro sind investiert worden: Zaha Hadids 142 Meter hoher Turm markiert die Uferline im Norden, dazwischen «Le Silo», einst Frankreichs grösster Getreidespeicher, heute Konzertsaal. Den Abschluss der Strandpromenade machen schliesslich die «Villa Méditerranée» des italienischen Architekten Stefano Boeri. Daneben, beinahe verdeckt, ein schwarzer Kasten: Das Musée des civilisations de l‘Europe et de la Méditerranée (MuCEM) des Architekten Rudy Ricotti. Der Besuch beider Gebäude stand für den nächsten Tag auf dem Programm.
Stadteinwärts dann ein weiteres Museum, das Haus des Fonds Régional d’Art Contemporain (Frac). Das Zentrum für zeitgenössische Kunst ist ein Entwurf des japanischen Architekten Kengo Kuma und wirkt, als wäre es in eine Wolke kleiner Glasscheiben gehüllt. Er habe den Effekt japanischer Reispapier-Paravents nachempfinden wollen, sagt der Architekt. Das handgefertigte Glas soll das Licht auf natürlichere Art filtern. Nur leider tun die Scheiben eben dies nicht, sind sie doch vor einer Betonfassade angebracht, die lichtundurchlässig ist.
Die Arbeit am Projekt «Euroméditerranée» ist bis 2020 voranschlagt – insgesamt sollen 24 000 neue Wohnungen, eine Million Quadratmeter neuer Büroflächen und knapp 61 000 Quadratmeter öffentlichen Raumes entstehen. Ob sich dadurch der erwünschte wirtschaftliche Anschub einstellt und wie weit dieser in die verarmte Peripherie ausstrahlen wird, wird sich zeigen.
Den Abschluss des zweitletzten Reisetages machte eine Wanderung in den Calanques. Die schroffe Felslandschaft liegt nur eine halbe Stunde vom Zentrum der französischen Hafenstadt entfernt. «Erst wer diese Landschaft gesehen hat, kann auch die Stadt verstehen», schloss Reiseleiter Thomas Meyer-Wieser bezeichnenderweise.

Sonntag, 26. Mai – Schwarz und Weiss.

Zum Abschluss besuchte die Gruppe die zwei markantesten Neubauten der Kulturhauptstadt 2013: Das MuCEM von Rudy Ricotti und die Villa Méditerranée von Stefano Boerri – die beiden Museum liegen hintereinander im ehemaligen Handelshafen, schwarz neben weiss. Ricottis Bau ist ein Kasten von 72 auf 19 Meter, eine schwarze Betonhülle spannt sich einem Fischernetz ähnlich über die Fassade. Boerris Entwurf wirkt dagegen protzig, er gleicht einem 16-Meter-Sprungbrett ins Meer.
Dabei kommt ersterem die bedeutendere Rolle zu, es soll das erste eigenständige Nationalmuseum ausserhalb von Paris beherbergen und ist den Geschichten und Visionen der Kulturen des Mittelmeers gewidmet, ihren Beziehungen untereinander sowie ihrem Verhältnis zu Europa.
Ricottis Projektleiter führte die Reisegruppe durch das MuCEM. Die Rampen, die sich unter der porösen Struktur um den Glaskubus im Inneren schlängeln, eröffnen ständig neue Blicke auf den Hafen. Markantes Detail: Ein Gehweg, der an einen Stahlträger erinnert, verbindet das Dach des Gebäudes mit dem Fort Saint-Jean und damit mit dem Altstadtviertel «Le Panier». Interessant waren auch die Erläuterungen zu der Materialisierung der Fassade: Das zehn Zentimeter dicke Gitterwerk ist aus schwarzem, hochfestem Beton gefertigt, der während der letzten fünf Jahre entwickelt wurde.
Das weisse Nachbargebäude formt in Schnitt ein grosses «C», das sich zum Meer hin öffnet. Es erinnert an den den Rumpf eines Kreuzfahrtschiffes – samt weisser Fassade und getönten Fenstern. Knapp die Hälfte davon liegt unter Wasser. Die Idee war, an möglichst vielen Punkten auf das Wasser blicken zu köennen. Was darin stattfinden soll? Konferenzen, Konzerte, ein arabisches Filmfest und Performance-Theater.
Wie immer richtet Frankreich mit der grossen Kelle an, dabei auf der Strecke bleiben, könnte das einzigartige Flair der Sadt, das Facelifting wirkt etwas zu konzipiert. Dem wirken die Marseilles gekonnt entgegen: Wann all die neuen Museen eröffnet werden, weiss niemand genau –  wer nachfragt, bekommt zur Antwort: «Prèsque fini».

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